Mit etwas Verzögerung trat am Sonntagmorgen endlich die langersehnte Waffenruhe in Gaza in Kraft. Während in Israel im Verlaufe des Tages die ersten freigelassenen Geiseln erwartet werden, ist Polizeiminister Itamar Ben-Gvir zurückgetreten.
Am Ende dauerte der längste Krieg, den Israel in seiner Geschichte je geführt hat, dann noch etwas länger als vorgesehen. Eigentlich hätten die Kämpfe in Gaza bereits am Sonntagmorgen um 8 Uhr 30 aufhören sollen. Doch zu dem vereinbarten Zeitpunkt bombardierten die Israeli weiter. Der Grund: Die Hamas hatte sich offenbar nicht an die Abmachung gehalten.
Die palästinensische Terrorgruppe, die den Krieg mit ihrem Angriff auf Israel am 7. Oktober 2023 ausgelöst hatte, hätte zu diesem Zeitpunkt eigentlich längst die Namen jener ersten Geiseln übermitteln müssen, welche planmässig am Sonntagnachmittag freigelassen werden sollten. Doch die Hamas-Bosse zierten sich. Man habe «technische Probleme», liessen sie vermelden.
Drei Frauen sollen heute freikommen
Offenbar hatte die Palästinenser-Truppe Schwierigkeiten mit der internen Kommunikation. Zudem mussten die Namen erst noch von Mohammed Sinwar, dem versteckt lebenden Gaza-Chef der Hamas, bestätigt werden. Erst Stunden später, um 11 Uhr 15 Lokalzeit, war dann alles in trockenen Tüchern. Israel bestätigte, die Namen erhalten zu haben. Daraufhin schwiegen in Gaza die Waffen.
Nun warten in Israel alle auf die Rückkehr der Verschleppten. Drei Geiseln sollen im Verlauf des Tages freigelassen werden. Dabei handelt es sich laut israelischen Medien offenbar um drei Frauen. Eine von ihnen ist Romi Gonen. Die 24-Jährige war am 7. Oktober auf dem Nova-Musikfestival von Hamas-Kämpfern verschleppt worden. Laut Angaben der Hamas sollen zudem Emily Damari und Doron Steinbrecher freikommen.
Insgesamt sollen in einer ersten Phase des Waffenstillstandsabkommens 33 der rund 98 verbliebenen israelischen Geiseln freigelassen werden. Im Tausch verpflichtete sich Israel, Hunderte palästinensische Gefangene aus den Gefängnissen zu entlassen. Die ersten von ihnen sollen freikommen, sobald die drei israelischen Geiseln in Sicherheit sind.
Polizeiminister Ben-Gvir tritt zurück
In Israel herrscht Erleichterung über den Beginn der Waffenruhe. Angehörige der Geiseln hatten seit Monaten auf einen Austausch gedrängt. Nun hoffen viele, nach Monaten des Wartens ihre Liebsten wiederzusehen. In der Nacht auf Sonntag waren in Jerusalem und Tel Aviv nochmals Tausende auf die Strasse gegangen, um für die Freilassung der Geiseln zu demonstrieren.
Aber nicht alle begrüssen den Waffenstillstand. In Israels rechtsreligiöser Regierung hat das Abkommen mit der Hamas bereits gestern für Zerfallserscheinungen gesorgt. So kündigte der ultrarechte Polizeiminister Itamar Ben-Gvir an, im Falle eines Abkommens die Regierungskoalition zu verlassen. Am Sonntagmorgen machte Ben-Gvir seine Drohung wahr und zog seine Minister aus der Regierung ab.
Ministerpräsident Benjamin Netanyahu kann vorerst auch ohne die Abgeordneten Ben-Gvirs weiterregieren. Doch der Polizeiminister ist nicht der Einzige, der gegen den Deal mit der Hamas schiesst. Auch Finanzminister Bezalel Smotrich würde lieber weiterkämpfen und bezeichnet das Abkommen als Kapitulation vor der Hamas. Doch der ebenfalls ultrarechte Politiker bleibt der Regierung vorerst erhalten.
In Gaza wird gefeiert
Allerdings ist unklar, ob er in Zukunft auch eine Verlängerung des Waffenstillstands mittragen wird. Die Waffenruhe, die vorerst nur für 42 Tage gilt, steht deshalb auf tönernen Füssen. Denn nach Ablauf dieser Frist müssten sich Israel und die Hamas eigentlich auf ein weiteres Vorgehen einigen, welches am Ende in einen permanenten Waffenstillstand münden sollte.
Israels Regierung nimmt sich jedoch das Recht heraus, die Kämpfe gegebenenfalls wieder aufzunehmen, sollte es zu keiner Einigung kommen. Einfach werden die kommenden Verhandlungen nicht. Denn viele strittige Fragen – wie etwa der Umfang eines israelischen Truppenabzugs – wurden erst einmal auf die nahe Zukunft verschoben.
In Gaza war die angekündigte Waffenruhe trotz diesen eher trüben Aussichten schon vor Tagen gefeiert worden. Die traumatisierte und ausgebombte Bevölkerung, die Zehntausende Tote zu beklagen hat, ist am Ende ihrer Kräfte. «Wir zählen die Stunden, bis es endlich aufhört», schreibt ein Journalist aus dem Küstenstreifen via Kurznachricht.
Die Hamas will an der Macht bleiben
Mit Beginn der Waffenruhe sollen täglich 600 Lastwagen mit Hilfsgütern in den komplett zerstörten Küstenstreifen fahren. Doch den zuständigen Hilfsorganisationen steht eine Mammutaufgabe bevor: Die komplette Infrastruktur Gazas ist zerstört. Zudem stehlen organisierte Banden immer wieder Hilfsgüter.
Die Hamas hingegen nutzt die angekündigte Waffenruhe, um sich für die Zukunft zu positionieren. Während ihre Exilführer die Feuerpause als Sieg feiern, zeigten sich in den kaputten Strassen Gazas schon erste Hamas-Kämpfer in Uniform. Die Islamisten-Truppe werde hier wohl auch in Zukunft die Macht innehaben, ist ein Palästinenser aus Gaza überzeugt. «Die Leute hassen das. Aber sie können nichts dagegen tun.»