Seit mehr als zwei Monaten protestieren Demonstranten in Tbilissi und anderen georgischen Städten gegen die Regierung. Diese gibt sich unbeirrt, geht unzimperlich gegen ihre Gegner vor und heizt den Konflikt mit neuen Gesetzesinitiativen noch an.
Jeden Abend ist der Rustaweli-Boulevard in der georgischen Hauptstadt Tbilissi spätestens ab 21 Uhr für den Verkehr gesperrt. Dann werden die Menschentrauben dichter. Die Prachtsstrasse am rechten Ufer der Kura ist das Epizentrum des Protests gegen die Regierung. Seit Ende November versammeln sich täglich einige hundert bis mehrere tausend oder gar zehntausend Demonstranten vor dem Parlament. Es ist ein Kommen und Gehen, Bekannte und Freunde grüssen sich, stehen zusammen, tauschen sich über die neuen Entwicklungen aus. Wortführer gibt es keine. Manche haben Trillerpfeifen dabei oder Vuvuzelas. Strassensänger treten auf. Auch die Strassenhunde sind Stammgäste. Sie sehen wohlgenährt aus.
Unbeugsame Demonstranten
An diesem kalten Winterabend ist die Polizei nur an den Rändern der Menschenmenge präsent. Manche Demonstranten klammern sich an einen Becher heissen Kaffees, der am Strassenrand verkauft wird. Unter ihnen sind Leo und Salome, ein junges Paar, das sich aus Sicherheitsgründen nur mit Vornamen vorstellt. «Wir kommen nach Möglichkeit jeden Abend», sagt Leo. Aber es sei auf Dauer anstrengend, mitzuerleben, wie viele immer wieder festgenommen und verletzt würden. «Wir haben weiterhin Hoffnung, deshalb sind wir hier.»
Leo ist stolz darauf, dass die Protestbewegung ständig neue Wege findet, auf sich aufmerksam zu machen. Die Verantwortung für den Erfolg sieht er bei den Georgiern – vom Westen erwartet er nicht allzu viel, aber er wünscht sich mehr Taten statt Worte. Salome verweist darauf, dass der Protest generationenübergreifend sei. Auch ihre 84-jährige Grossmutter sei anfangs jeden Abend gekommen. Aber sie sagt auch: «Es gibt jetzt mehr Streit in der Familie.»
Am 28. November hatte Ministerpräsident Irakli Kobachidse angekündigt, die Regierung werde von sich aus bis Ende 2028 den Dialog mit der Europäischen Union über die Integration Georgiens nicht suchen, sondern selbständig an der Erfüllung der Bedingungen arbeiten. Das wurde als vorläufige Absage an das grosse Ziel einer Mehrheit der Georgier, die Annäherung an die EU, verstanden.
Die Nachricht schlug in Tbilissi wie eine Bombe ein. Gerade eben war der Protest der Opposition und vieler zivilgesellschaftlicher Aktivisten gegen die Resultate der Parlamentswahlen Ende Oktober ergebnislos abgeflaut. Nun aber war die Wut so gross, dass sie sich in weit grösserem Umfang Bahn brach – und bis zum jetzigen Tag nicht besänftigt ist. Im Dezember gingen Bilder wie aus einem Krieg um die Welt: einzelne militante Demonstranten, die mit Feuerwerk die Bereitschaftspolizisten und das Parlamentsgebäude angriffen, Schwaden von Tränengas in der Innenstadt, brutale Festnahmen und gezielte Polizeigewalt auch gegenüber friedlichen Teilnehmern sowie vermummte Männergruppen, die Demonstranten und Journalisten angriffen und verfolgten.
Zwei unversöhnliche Lager
Mittlerweile geht es beiden Seiten um alles oder nichts. Die Demonstranten fordern Neuwahlen unter aussenstehender Aufsicht, um Manipulationen zu verhindern, und die Freilassung von Aktivisten, Journalisten, Politikern und zufälligen Kundgebungsteilnehmern, die im Zuge der gewaltsamen Zusammenstösse mit der Polizei festgenommen worden waren und denen harte Strafen drohen. Sie wollen den Georgischen Traum, die Regierungspartei seit 2012, loswerden. Die Regierung gibt sich völlig unbeirrt, verschärft ihre Rhetorik und lässt gesetzgeberisch Taten folgen. In den vergangenen Wochen schränkte sie die Versammlungsfreiheit ein und erhöhte die Strafen unter anderem bei Störung der öffentlichen Ordnung und Angriffen auf Polizisten.
Das Parlament besteht wegen des Boykotts durch die Opposition nur noch aus der Regierungspartei Georgischer Traum des Milliardärs Bidsina Iwanischwili. Es hat eine Kommission eingerichtet, die die «Verbrechen» der 2012 abgewählten Vorgängerregierung unter Führung der Vereinigten Nationalbewegung des damaligen Präsidenten Micheil Saakaschwili untersuchen soll. Kobachidse will die Politik von der alten Opposition «säubern», der er «liberalen Faschismus» vorwirft und die er, im Verbund mit ausländischen Kräften und von diesen unterstützten Nichtregierungsorganisationen, für einen «deep state» hält.
Brüche in der Gesellschaft
Nikolos Samcharadse ist Vorsitzender des Komitees für auswärtige Angelegenheiten im georgischen Parlament und hat, wie Kobachidse und der Parlamentspräsident Schalwa Papuaschwili, unter anderem in Deutschland studiert. Was sich derzeit in Georgien abspielt, ist aus seiner Sicht keine politische, sondern eine gesellschaftliche Krise. Politisch gesehen, sei alles klar: Die Georgier hätten gewählt, der Georgische Traum habe die Mehrheit erlangt, und wie nach vorherigen Wahlen akzeptiere die Opposition das Resultat nicht. «Das ist nichts Neues für uns», sagt er im Gespräch in Tbilissi.
Neu hingegen sei, wie sich durch Desinformation, Lügen und auswärtigen Druck aus dem Westen die Polarisierung der Gesellschaft verschärft habe. Vor allem in den sozialen Netzwerken habe eine Radikalisierung stattgefunden. Geschwister, Eltern, Kinder fänden sich auf unterschiedlichen Seiten wieder und sprächen nicht mehr miteinander. Überhaupt beklagt er eine fehlende Diskussionsbereitschaft. Die Fronten verhärteten sich. Dafür verantwortlich macht er auch die Opposition: Sie beklage Wahlbetrug, aber habe zur Untersuchung der Generalstaatsanwaltschaft nichts beigetragen.
Ähnlich wie der nur mit den Stimmen des Georgischen Traums zum Präsidenten gewählte Micheil Kawelaschwili jüngst im Interview mit der NZZ sieht auch Samcharadse im Verhalten des Westens eine grosse Mitschuld an der gegenwärtigen Situation in Georgien. Dieser habe das Land im Zusammenhang mit dem Ukraine-Krieg unter Druck gesetzt, weil ihm das Verständnis für Georgiens delikate Beziehungen zu Russland fehlten.
Einschüchterung der Medien und der Gegner
Der Europäischen Union wirft er vor, mit ungleichen Ellen zu messen, etwa bei ihren Bedingungen für die Aufnahme von Beitrittsgesprächen, namentlich bei der Wahlgesetzgebung. «Irgendetwas stimmt nicht in unseren Beziehungen zur EU», meint er. Der Integrationsprozess werde der Bevölkerung viel abverlangen. Äusserer Druck erschwere die Akzeptanz der Schritte nur zusätzlich. Wie Kawelaschwili glaubt auch er, dass vieles vom weiteren Verlauf des Ukraine-Krieges abhänge. Ein Ende dieses Krieges werde auch neue Möglichkeiten im Verhältnis zur EU eröffnen, sagt Samcharadse überzeugt.
Die Vorwürfe der Opposition, die Regierung schränke immer mehr die Freiheitsrechte ein und lasse Schlägerbanden am Rande der Proteste sowie prügelnde Polizisten gewähren, perlen an den Machthabern ab. Besonders beunruhigt die Regierungsgegner der Fall der Journalistin Msia Amaghlobeli, der wegen Tätlichkeit gegen den Polizeichef von Batumi eine bis zu siebenjährige Freiheitsstrafe droht und die seit bald einem Monat im Hungerstreik ist.
Sie sehen im Vorgehen gegen die unerschrockene Frau den Versuch, ein Exempel zu statuieren und andere kritische Journalisten einzuschüchtern. Bei vergleichbaren Vorwürfen gegenüber regierungsnahen Personen habe die Justiz sich viel milder gezeigt, argumentierte die Gründerin und Co-Chefredaktorin des Portals «OC Media», Mariam Nikuradse, in einem Kommentar und bezeichnet Amaghlobeli als politische Gefangene.
Wunsch nach neuer Politikergeneration
Der Georgische Traum doppelte vor wenigen Tagen nach und kündigte zwei neue Gesetze an: ein Mediengesetz, das unter anderem ausländische Finanzierung von Medien einschränken und ethische Standards festlegen will, und eine Neufassung des umstrittenen «Transparenzgesetzes» über die Finanzierung von Nichtregierungsorganisationen aus dem Ausland. Ersteres soll das britische Mediengesetz kopieren, Letzteres das amerikanische «Agentengesetz» Fara.
Mit der direkten Übernahme von westlichen Gesetzesbestimmungen will die Regierung der Kritik daran von vornherein den Boden entziehen. Die Hartnäckigkeit, mit der sie ihre Vorstellungen von «Souveränität» durchzieht, und die Obsession mit ausländischem Einfluss entfernt den Georgischen Traum immer weiter von den Gegnern im Innern, aber auch von der EU und anderen europäischen Institutionen. Jüngst überwarf sie sich auch mit dem Europarat, dessen Generalsekretär Alain Berset im Dezember in Tbilissi zu vermitteln versucht und dessen Mission Samcharadse noch im Januar gelobt hatte.
Für den Studenten Giorgi, der an der staatlichen Universität Journalistik studiert, stellt sich die Situation im Land seltsam dar. «Die Leute wissen nicht, was sie tun sollen. Nicht weil ihnen ein Anführer fehlt, sondern weil es an neuen Ideen mangelt», meint er. Es gebe zu wenig Veränderung. «Es braucht neue Leute mit neuen Vorstellungen.» Sein Kommilitone Rewas stimmt ihm zu. Die Oppositionsparteien repräsentierten die Vergangenheit. Der politische Analytiker Petre Mamradse, einst Stabschef der Präsidenten Eduard Schewardnadse und Micheil Saakaschwili, geht noch weiter. Er bezeichnet die heutige Opposition als feudale Gesellschaft aus ehemaligen Saakaschwili-Leuten. «Gäbe es eine kompetente Opposition, würde ich ihr helfen», sagt er.
Manche erinnert die gegenwärtige Situation an den Machtmissbrauch am Ende der Herrschaft Saakaschwilis. Damals nutzte Bidsina Iwanischwili den Unmut und die Enttäuschung der Bevölkerung und fegte in demokratischen Wahlen die Vereinigte Nationalbewegung vom Platz. Georgiens Gesellschaft ist hartnäckig und lässt sich nicht so leicht einschüchtern. Das zeigen auch jüngste Umfragen: Es ist nicht bloss ein marginaler Teil der Bevölkerung mit der Regierung und ihrem Kurs unzufrieden, wie der Georgische Traum behauptet. Die Regierungsgegner hoffen darauf, dass auch dessen Ressourcen endlich sind. Aber noch gibt es keine Anzeichen dafür, dass diesem die Zügel entgleiten.