Nicht ein Sack Reis, nein, 50 Millionen davon sind in Japan umgefallen – und spurlos verschwunden. Wo stecken sie nur? Der Agrarminister ist ratlos.
In Japan hat diese Woche eine denkwürdige Auktion stattgefunden. Versteigert wurden nicht etwa Hunderte Kilo schwere Thunfische für Millionenbeträge, wie es dort regelmässig geschieht, sondern der gemeinhin günstige Reis. Genau 141 796 Tonnen davon – aus Japans staatlichem Notvorrat, der 1 Million Tonnen umfasst. Dies teilte die Regierung am Freitag mit. Der Preis lag bei 21 217 Yen pro 60 Kilogramm. Das heisst: Der Staat hat rund 300 Millionen Franken verdient.
Die Entscheidung der Regierung, einen Teil ihrer Reisreserven zu versteigern, ist historisch. Eigentlich sind die Vorräte für Naturkatastrophen oder Ernteausfälle vorgesehen. Doch nun fehlen auf dem japanischen Markt rund 50 Millionen Reissäcke. In einigen Supermärkten gilt bereits eine Kaufbeschränkung: ein Sack pro Haushalt – wenn überhaupt noch Reis verfügbar ist.
Konsumenten, Sake-Brauer und Restaurantbesitzer sind wütend. Denn Reis ist in der japanischen Küche essenziell. Und importierten Reis zu kaufen, ist für viele Japaner keine Option. Sie haben eine klare Vorliebe für die heimischen Sorten. Darum schicken Bauern in ländlichen Gebieten Reis an ihre Enkel in Tokio. In den sozialen Netzwerken kursieren Verschwörungstheorien über den Reismangel.
Rekordpreise trotz guter Ernte
Und wegen der Knappheit explodieren die Preise. Innerhalb eines Jahres verdoppelte sich der Preis für einen 5-Kilogramm-Sack Reis auf fast 4000 Yen (24 Franken). Die hohen Preise haben die Inflation verstärkt, weshalb der Reismangel sogar Auswirkungen auf den Devisenmarkt hat und auch eine Rolle bei der Entscheidung der japanischen Zentralbank spielte, die Zinsen im Januar zu erhöhen.
Ein Grund für die Knappheit ist der Klimawandel. Höhere Temperaturen, unregelmässige Niederschläge, stärkere Winde und sehr heisse Sommer haben in den vergangenen Jahren die Ernten beeinträchtigt. Besonders schlecht fiel die Ernte 2023 aus, was die Preise in die Höhe trieb.
Die Ernte im Herbst 2024 fiel wesentlich besser aus, doch die Knappheit bleibt bestehen. Um den Markt zu stabilisieren, greift die Regierung nun auf die staatlichen Reserven zurück. Was ist wirklich los?
«Es geschieht etwas wirklich Unvorstellbares»
Im japanischen Reismarkt verkaufen Landwirte ihre Ernte an Zwischenhändler, die wiederum an Grosshändler verkaufen, die ihrerseits an Geschäfte und Restaurants verkaufen. Trotz einem Anstieg der Reisernte um 180 000 Tonnen im letzten Jahr meldeten die Zwischenhändler, dass sie 230 000 Tonnen weniger als im Vorjahr kaufen konnten.
Selbst das japanische Landwirtschaftsministerium kann sich diesen Schwund nicht erklären. Taku Eto, der Landwirtschaftsminister, zeigte sich bei einer Pressekonferenz Ende Februar ratlos: «Es geschieht etwas wirklich Unvorstellbares.» Doch Eto ist überzeugt: «Es gibt definitiv Reis. Doch eine Menge wurde irgendwo versteckt.»
Shuji Hisano, Professor für politische Landwirtschaftsökonomie an der Graduate School of Economics in Kyoto, unterstützt diese These. Er sieht die kurzfristigen Gründe für die Reisknappheit in einer Kombination aus verschiedenen Faktoren. Dazu gehören Hitzewellen, die die Ernten schmälern, Touristen, die viel Reis konsumieren, steigende Reisexporte und – wie der Landwirtschaftsminister vermutete: «Bevölkerung und Firmen horten Reis, weil sie Engpässe fürchten», sagt Hisano.
Auffällig ist, dass der grosse Preisanstieg im letzten Sommer geschah. Damals warnte die Regierung vor einem Erdbeben an der Südküste. Die Japaner kauften massenweise Reis als Notvorrat. Doch obwohl die Ernte sich verbessert hat, bleiben die Preise hoch.
Künstliche staatliche Verknappung
Ein Grund dafür ist laut Hisano die starke Regulierung des Reismarktes. Der Staat begrenzt die Anbauflächen, um die Preise stabil zu halten und die Bauern zu schützen. Denn in den vergangenen sechzig Jahren hat sich der Reiskonsum in Japan etwa halbiert, inzwischen essen Japaner «nur noch» 51 Kilo Reis pro Kopf und Jahr.
Seit 2004 dürfen Bauern ihren Reis jedoch auch ausserhalb der traditionellen Handelswege verkaufen. Dadurch ist es schwieriger geworden, den Überblick über die tatsächliche Menge auf dem Markt zu behalten. Laut Hisano führt diese Intransparenz dazu, dass selbst kleinste Schwankungen bei Angebot und Nachfrage spekulative Käufe und Hamsterkäufe auslösen.
Und Spekulanten setzen auf weiter steigende Preise und warten mit dem Verkauf. Der Reis sei nicht «irgendwo verschwunden», sondern eher «in den verschiedenen Ecken des Marktes zerstreut», sagt Hisano.
Agrarminister ist zuversichtlich
Mit der Auktion des staatlichen Notvorrats greift die Regierung nun zu drastischen Massnahmen. «Wenn eine so grosse Menge auf den Markt kommt, wird sich das Gleichgewicht zwischen Angebot und Nachfrage natürlich bis zu einem gewissen Grad verbessern», sagte der Landwirtschaftsminister am Freitag und zeigte sich zuversichtlich, dass die Reispreise sinken werden.
Die Regierung werde demnächst weitere 70 000 Tonnen Reis versteigern, um die verschwundenen 230 000 Tonnen zu kompensieren. Sie erwägt sogar, zusätzliche Reserven freizugeben.
Professor Hisano bleibt jedoch skeptisch. Er ist der Meinung, dass die Marktsituation mittlerweile zu unübersichtlich sei, um einen nachhaltigen Preisrückgang zu erwarten.