Es handelt sich mutmasslich um die grösste Massenverschleppung aus einer Schule seit 2021. Entführungen haben sich zu einer regelrechten Epidemie entwickelt, die Regierung scheint machtlos.
Die schwer bewaffneten Entführer kamen kurz Schulbeginn. Sie umzingelten am Donnerstag die Schule in dem Ort Kuriga im Nordwesten Nigerias und zwangen die rund 700 Schülerinnen und Schüler und deren Lehrer in ein nahes Waldstück. Zwar gelang vielen die Flucht, doch die Kindnapper entführten wohl über 200, möglicherweise über 300 Schülerinnen und Schüler.
Die genaue Zahl ist immer noch unklar. Laut einem Lehrer seien 125 Grundschüler und 187 Oberschüler entführt worden. 25 Schüler seien inzwischen zurückgekommen, wobei nicht gesagt wurde, ob sie fliehen konnten oder freigelassen wurden. Am Freitagmorgen galten immer noch 287 Kinder als vermisst. Zudem wurde laut Medienberichten ein Mädchen angeschossen, es wird derzeit im Spital behandelt. Wer hinter der Tat stecken könnte, ist bisher unklar.
Lokale Bürgerwehr überwältigt
Fatima Usman, deren zwei Kinder zu den Verschleppten gehören, sagte der Nachrichtenagentur Reuters am Telefon: «Wir wissen nicht, was wir tun sollen, wir warten alle darauf, was Gott tun kann. Sie sind meine einzigen Kinder, die ich auf der Erde habe.» Hassan Abdullahi, Vater von siebzehn Kindern, die entführt worden, sagte, die örtliche Bürgerwehr habe noch versucht, die Angreifer abzuwehren. Sie sei jedoch überwältigt worden. Er sei sehr traurig, dass die Regierung die Menschen in diesem Gebiet völlig vernachlässigt habe, so Abdullahi zu Reuters. Eltern und Einwohner machten die mangelnde Sicherheitslage in der Region für die Entführung verantwortlich.
Der Gouverneur des Bundesstaates Kaduna, versprach vor Ort, alles für die Freilassung der Kinder zu unternehmen. In Videos und auf Fotos ist der Gouverneur zu sehen, wie er schwer bewacht die Region besucht. Auch sind dort zahlreiche Militärfahrzeuge zu sehen. In den Sozialen Netzwerken wird die Frage aufgeworfen, wo das Militär vor der Entführung war und warum es die Schulen nicht besser schützt.
VIDEO: Kaduna Governor visits school where terrorists abducted children pic.twitter.com/1ja60emNVq
— AIT (@AIT_Online) March 7, 2024
Die Massenverschleppung der Kinder reiht sich ein in eine Serie von Entführungen von Zivilisten, die besonders den unruhigen Nordwesten Nigerias betreffen. Ende Februar wurden im nordöstlichen Bundesstaat Borno Dutzende von Binnenvertriebenen entführt. Es soll sich mehrheitlich um Frauen und Kinder handeln, die ausserhalb des Lagers Brennholz sammelten. Die Vereinten Nationen gehen davon aus, dass über 200 Menschen verschleppt wurden. In dieser Region ist vor allem die Terrororganisation Boko Haram aktiv.
Im September vergangenen Jahres wurden 35 Studierende und Angestellte einer Universität im nordwestlichen Bundesstaat Zamfara entführt. Im Sommer 2021 wurden im Bundesstaat Kaduna 150 Schülerinnen und Schüler entführt. Nach Zahlung von Lösegeld konnten sie Monate später zu ihren Familien zurückkehren. Generell haben sich Entführungen laut Experten in Nigeria zu einem lukrativen Wirtschaftsmodell entwickelt, denn mit den oft gezahlten Lösegeldern lässt sich auch die Kriegswirtschaft finanzieren. Aber auch die ökonomische Not aufgrund von Inflation und kriselnder Wirtschaft trage zu der steigenden Zahl von Entführungen bei.
Die Menschenrechtsorganisation Amnesty International forderte Anfang Jahr den nigerianischen Präsidenten Bola Tinuba auf, die zunehmenden Entführungen im Land als Notfall zu behandeln und Massnahmen dagegen zu ergreifen. Dies, nachdem in einer Januarwoche 45 Personen, die im südöstlichen Bundesstaat Benue unterwegs waren, verschleppt worden waren. Selbst in der Hauptstadt Abuja, wo das Militär sehr präsent ist, sind die Menschen vor Entführungen nicht sicher. Anfang Januar wurden dort ein Vater und seine sechs Töchter entführt. Es kam zu einer Crowdfunding-Aktion, um das Lösegeld zu bezahlen. Die Entführer töteten allerdings eines der Mädchen und forderten stattdessen noch mehr Geld.
Die nigerianische Regierung scheint im Kampf gegen islamistische Gruppierungen wie Boko Haram und Islamischer Staat Provinz Westafrika sowie diverse bewaffnete Gruppierungen machtlos. Wie Amnesty in seinem Länderbericht Nigeria für 2022/2023 schreibt, seien im Jahr 2022 über 690o Menschen von diesen Gruppen getötet worden, 6157 entführt, weitere 2000 seien vertrieben worden. Boko Haram habe seine Angriffe dabei vom Nordosten auf weitere Bundesstaaten im gesamten Norden ausgeweitet. Ihre Angriffe auf die Zivilbevölkerung stellen laut AI Kriegsverbrechen dar.
Laut Aussagen von Einwohnern, geraten Zivilisten zudem immer wieder zwischen die Fronten im Kampf zwischen der nigerianischen Armee und Boko Haram.
Fahrten nur im bewaffneten Konvoi und niemals bei Nacht
Das Eidgenössische Department des Äusseren und auch das Auswärtige Amt in Deutschland warnen ausdrücklich vor Reisen in einzelne Landesteile Nigerias wegen des «hohen Risikos von politischen und kriminellen Entführungen». Reisen sollten möglichst nicht auf dem Landweg durchgeführt werden und schon gar nicht nach Einbruch der Dunkelheit. Unausweichliche Fahrten sollten nur mit einer bewaffneten Eskorte durchgeführt werden.
Laut der «BBC»-Korrespondentin Mayeni Jones sind die jüngsten Massenentführungen ein Zeichen, dass die islamistische Terrororganisation Boko Haram noch immer eine grosse Bedrohung für die Bevölkerung im Nordosten Nigerias darstellt.
What are the 3 things we know about the latest abductions in Nigeria?@MayeniJones explains 👇 pic.twitter.com/E2UOqMfJDs
— BBC News Africa (@BBCAfrica) March 7, 2024
International finden die Entführungen wenig Beachtung. Anders war dies vor zehn Jahren, als im April 2014 Boko Haram-Terroristen 276 Schülerinnen einer staatlichen Sekundarschule in Chibok verschleppten. Die bewaffneten gaben sich als Angehörige der nigerianischen Armee aus, zwangen die Mädchen auf Lastwagen und verschleppten sie in den Dschungel. Die Entführung sorgte damals international für Aufsehen, die Aussenminister der EU und der damalige amerikanische Präsident Barack Obama verurteilten die Tat. In den Sozialen Netzwerken wurde unter dem Hashtag #BringBackOurGirls die Freilassung der Mädchen gefordert.
Während eine Handvoll Teenagerinnen fliehen konnte, blieben die meisten Mädchen über zwei Jahre in der Gewalt der Entführer und waren mutmasslich Vergewaltigungen ausgesetzt. und wurden gezwungen, zum Islam zu konvertieren. Laut Amnesty International befanden sich 2023 noch immer 98 der im Jahr 2014 entführten Schülerinnen in der Gewalt der Boko Haram.