Unter dem Druck der Opposition hat die indische Regierung zugesagt, bei der anstehenden Volksbefragung Daten zur Kastenzugehörigkeit zu erheben. Diese spielt noch immer eine grosse Rolle in der Politik sowie bei Bildung und Beschäftigung.
Die indische Republik hat sich nach der Unabhängigkeit 1947 das Ziel gesetzt, das Kastensystem zu beseitigen. So verbietet die Verfassung jede Diskriminierung aufgrund der Kaste und fordert den Staat auf, für Chancengleichheit zu sorgen. Um der bestehenden Ungleichheit entgegenzuwirken, gewährt sie gewissen benachteiligten Kasten und Stämmen feste Quoten in Parlamenten und Gemeinderäten. Diese Gruppen werden zudem bei der Vergabe von Ausbildungs- und Arbeitsstellen im öffentlichen Dienst bevorzugt.
Daraus hat sich ein ganzes System zur Förderung der benachteiligten Kasten und Stämme entwickelt. Heute sind 1170 Kasten als Scheduled Castes (SC) und 890 Stämme als Scheduled Tribes (ST) erfasst. In den achtziger Jahren wurde dieses System der positiven Diskriminierung noch ausgeweitet auf die sogenannten Other Backward Classes (OBC). Diese über 2600 anderen rückständigen Klassen haben seither ebenfalls erleichterten Zugang zu Hochschulen und Behörden.
Allerdings wurden bei den Volksbefragungen nach 1947 nur Daten zu den SC und ST erhoben. Zu den anderen Kasten wurden keine Fragen gestellt. Damit fehlen Daten, wie viele Bürger als OBC eigentlich Anrecht auf die entsprechenden Vorteile haben. Die Opposition fordert daher schon lange, dass beim nächsten Zensus auch Fragen zur Kastenzugehörigkeit gestellt werden. Nun hat die Regierung überraschend eingelenkt und einen Kasten-Zensus angekündigt.
Die Opposition feiert die Kehrtwende als ihren Erfolg
Die Regierung von Premierminister Narendra Modi teilte nach einer Kabinettssitzung am Mittwoch mit, dass beim nächsten Zensus auch die Kastenzugehörigkeit erhoben werde. Die Volksbefragung ist seit 2021 überfällig und wird für nächstes Jahr erwartet. Neben den Kategorien der SC und ST soll der Fragebogen auch ein Feld zu den OBC enthalten. Die Erfassung der Kastenzugehörigkeit werde für mehr Transparenz in der Politik sorgen, hiess es zur Begründung. Auch werde so verhindert, dass das Thema weiter politisch missbraucht werde.
Die Opposition wertete das Einknicken der Regierung in der schon lange umstrittenen Frage als Sieg. Vor der Parlamentswahl 2024 hatte der Oppositionsführer Rahul Gandhi von der Kongresspartei immer wieder einen Kasten-Zensus gefordert. Es wurde erwartet, dass das Thema auch bei den im Herbst anstehenden Regionalwahlen im nordindischen Teilstaat Bihar eine wichtige Rolle spielen würde. Die Regierung musste befürchten, dass sie dabei weiter unter Druck gerät.
Modis Regierung versuchte nun, der Kongresspartei die Schuld dafür zu geben, dass bis heute kein Kasten-Zensus abgehalten wurde. Für ihre überraschende Kehrtwende wählte sie zudem einen Zeitpunkt, da das ganze Land auf Pakistan schaut. Indien macht den Nachbarn für den Terroranschlag auf Touristen verantwortlich, bei dem vergangene Woche in Kaschmir 26 Menschen getötet wurden. Es wird erwartet, dass Indien in Kürze einen Vergeltungsangriff auf Pakistan startet.
Paradoxerweise sind die Kasten heute wichtiger denn je
Die Debatte um den Kasten-Zensus zeigt, wie wichtig das Kastensystem in Indien weiterhin ist. Das System zur Förderung der benachteiligten Kasten hat zwar geholfen, den Anteil dieser traditionell diskriminierten Gruppen in Parlamenten, Behörden und anderen staatlichen Institutionen zu erhöhen. Auch haben die Angehörigen unterer Kasten heute leichter Zugang zu den Hochschulen. Paradoxerweise hat das System der positiven Diskriminierung aber auch dazu geführt, dass die Kastenzugehörigkeit wichtiger ist denn je.
Schliesslich ist die Kaste oft entscheidend dafür, wer einen Platz an der Universität oder eine Stelle im öffentlichen Dienst erhält. Es kann nicht verwundern, dass die Frage, welche Gruppe als SC, ST oder OBC eingestuft wird, regelmässig für Streit sorgt. Denn mit der Aufnahme in eine dieser Kategorien gehen handfeste Privilegien einher. Konkurrierende Gruppen müssen fürchten, im harten Wettkampf um die begehrten staatlichen Stellen benachteiligt zu werden.
Der Kongress-Politiker Shashi Tahroor sieht einen «Wettbewerb der Rückständigkeit» zwischen den Kasten. In einem Gastbeitrag für die NZZ schrieb er, das System führe dazu, dass die Kasten-Identität oft mehr zähle als die fachliche Qualifikation. Während es durchaus ein legitimes Ziel sei, durch Quoten in den Parlamenten für eine angemessene Repräsentation aller Bevölkerungsgruppen zu sorgen, sei dies etwa im Medizinstudium oder im Spital weniger eindeutig.
Bei Wahlen spielen die Kasten eine zentrale Rolle
Alle Parteien werben heute um die Stimmen benachteiligter Gruppen, die zusammen rund drei Viertel der Bevölkerung ausmachen. Da viele Wähler für Kandidaten der eigenen Kaste stimmen, spielt die Kastenzugehörigkeit eine grosse Rolle bei Wahlen. Finanziell sind die einst als Unberührbaren bezeichneten Dalits, die den Grossteil der SC ausmachen, weiterhin deutlich schlechtergestellt als andere Gruppen. In der Politik sind sie aber dank den Quoten aufgestiegen.
Auch sonst haben sich unter den «unteren Kasten» neue Eliten gebildet. Die Brahmanen und andere Angehörige der «oberen Kasten», die keine Förderung erhalten, klagen nun über Benachteiligung. Diese Kritik ist in Teilen berechtigt. Dennoch ist es unwahrscheinlich, dass die regierenden Parteien das System grundlegend reformieren. Dafür profitieren zu viele davon. Mit der Entscheidung, die Kastenzugehörigkeit künftig im Zensus zu erheben, wird das System wohl noch weiter festgeschrieben. Neue Verteilkämpfe sind bereits vorgezeichnet.