Der Chefankläger des ICC in Den Haag wirft der Hamas, aber auch Israel Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit vor. Was heisst das konkret, und was sind die Folgen? Die wichtigsten Antworten.
Was wirft der ICC Israel und der Hamas konkret vor?
Der Internationale Strafgerichtshof (ICC) in Den Haag ahndet die schwersten Delikte des Völkerstrafrechts. Das Römer Statut, mit dem das Tribunal 1998 gegründet wurde, listet die seiner Gerichtsbarkeit unterliegenden Verbrechen konkret auf. Ist der ICC zuständig und hat er den Verdacht, dass Straftaten begangen wurden, nimmt er Ermittlungen auf. Zur «Situation» in Palästina, wie der Gerichtshof von ihm untersuchte Konflikte nennt, tat er dies bereits im März 2021.
Diese Untersuchung hat mit dem Terrorangriff der Hamas und der Verschleppung von Geiseln am 7. Oktober – beides offenkundige Kriegsverbrechen – sowie dem vehementen militärischen Vorgehen Israels im Gazastreifen neue Dringlichkeit erhalten. Für den Chefankläger des ICC, Karim Khan, hat sich die Beweislage nun offenbar so weit verdichtet, dass er bei den Richtern der Vorverfahrenskammer Haftbefehle gegen die drei Hamas-Führer Yahya Sinwar, Mohammed Deif und Ismail Haniya sowie gegen den israelischen Regierungschef Benjamin Netanyahu und Verteidigungsminister Yoav Gallant beantragt hat.
Den Hamas-Führern wirft Khan Verbrechen gegen die Menschlichkeit vor, unter anderem wegen der Tatbestandsvariante der Ausrottung, der Vergewaltigung und der Folter. Verbrechen gegen die Menschlichkeit liegen dann vor, wenn ein widerrechtlicher Angriff gegen die Zivilbevölkerung in «ausgedehnter und systematischer» Weise erfolgt. Darüber hinaus liegen für den Chefankläger verschiedene Kriegsverbrechen vor, unter anderem wegen Geiselnahmen.
Gegen den israelischen Regierungschef und seinen Verteidigungsminister ersucht Khan um Haftbefehl ebenfalls wegen Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit, unter anderem listet er dabei das Aushungern der Zivilbevölkerung im Gazastreifen, die Verursachung grossen Leids und Ausrottung auf.
Statement of #ICC Prosecutor @KarimKhanQC: Applications for arrest warrants in the situation in the State of #Palestine ⤵️https://t.co/WqDZecXFZq
— Int’l Criminal Court (@IntlCrimCourt) May 20, 2024
Israel ist kein Mitglied des ICC. Warum kann er trotzdem tätig werden?
Israel ist wie die USA oder Russland kein Vertragsstaat, aber die Palästinenserbehörde trat dem ICC Anfang 2015 mit der Unterzeichnung des Römer Statuts bei. Die Wirksamkeit dieses Schritts ist wegen der völkerrechtlich nicht eindeutigen Staatlichkeit Palästinas umstritten. Die Vorverfahrenskammer des ICC bejahte sie aber und entschied 2021, das Gericht habe Zuständigkeit für den Gazastreifen und das Westjordanland inklusive Ostjerusalem. Erst danach leitete die damalige Chefanklägerin Fatou Bensouda Ermittlungen ein.
Die israelische Regierung reagierte damals harsch: Ministerpräsident Benjamin Netanyahu sprach von einem skandalösen Entscheid, einem Angriff auf sein Land und «reinem Antisemitismus». Die USA teilten die Empörung.
Dennoch ist die Folge, dass der ICC Gerichtsbarkeit sowohl für die Greueltaten der Hamas in Israel als auch für das Vorgehen der israelischen Streitkräfte im Gazastreifen hat. Die Zuständigkeit beschränkt sich jeweils nicht auf das Territorium eines Mitglieds, sondern umfasst auch aus diesem Gebiet oder von dessen Staatsangehörigen begangene Straftaten.
Allerdings kann der ICC nur subsidiär tätig werden, also nur dann, wenn die mutmasslichen Straftaten von der nationalen Justiz nicht geahndet werden. Israel ist ein funktionierender Rechtsstaat und argumentiert wie etwa auch die USA jeweils, es ziehe seine Soldaten selbst zur Verantwortung. Der ICC kam in der Voruntersuchung indes zu dem Schluss, dass seine Zuständigkeit gegeben sei. Sollte Israel später selbst Ermittlungen gegen die beiden Beschuldigten einleiten, würde das Verfahren in Den Haag vermutlich eingestellt.
Welche Konsequenzen haben die Haftbefehle?
Unmittelbar keine. Israel wird niemanden nach Den Haag ausliefern und die Hamas auch nicht. Der ICC hat aber keine eigene Polizei und ist auf die Unterstützung der Staatenwelt angewiesen. Der Ukraine-Krieg zeigt diese begrenzten Möglichkeiten auf: Der Gerichtshof hat schon im März 2023 Haftbefehle unter anderem gegen den Kremlherrn Wladimir Putin erlassen, die bisher keine Konsequenzen hatten. Der ehemalige sudanesische Präsident Omar al-Bashir ist sogar schon seit 2009 zur Festnahme ausgeschrieben und wurde von Khartum trotz wiederholten Versprechungen noch immer nicht überstellt.
Auf symbolischer Ebene ist der Schritt dennoch explosiv: Der israelische Regierungschef Netanyahu wird von einem international breit anerkannten Gericht wegen Kriegsverbrechen gesucht. Das schränkt nicht nur seine Reisefreiheit ein, weil alle 124 Vertragsstaaten verpflichtet wären, ihn bei entsprechender Möglichkeit festzunehmen. Es stellt sich auch die Frage, wie Regierungen reagieren, die sowohl den ICC anerkennen als auch eng an Israels Seite stehen – Deutschland etwa. Der Haftbefehl wird zudem die weltweite Kritik an der israelischen Kriegsführung verstärken, auch in den USA, wo Präsident Biden diese im Wahljahr nicht ignorieren kann.
Weniger einschneidend sind die Folgen für die Hamas-Führer. Sie sind in einem grossen Teil der Welt ohnehin völlig diskreditiert. Katar, wo die Hamas-Führung um Haniya lebt, hat das Römer Statut ebenfalls nicht unterschrieben. Sinwar und Deif halten sich vermutlich in Gaza auf, wo sie am ehesten von israelischen Soldaten aufgegriffen würden. Auch Ägypten und viele Länder der arabischen Welt sind nicht Vertragsstaaten des Gerichtshofs.
Was bedeuten die Haftbefehle für den Gaza-Krieg?
Der Druck auf Israel, die humanitäre Situation im Küstenstreifen zu verbessern, wird weiter steigen. Dieser war allerdings in den vergangenen Wochen schon hoch, weshalb das Land nun mehr Hilfe zulässt. An der Kriegsführung selbst wird sich vermutlich wenig ändern. Israel betont regelmässig, sich dem Völkerrecht verpflichtet zu fühlen, und bezeichnet seine Armee sogar als die «moralischste der Welt». Israelische Soldaten und Kommandanten werden geschult im humanitären Völkerrecht – was man konkret als zulässig bewertet, ist dabei eine andere Frage. Dass die militärische Führung ihr Vorgehen grundsätzlich anpasst, ist aber nicht zu erwarten.
Die Terrororganisation Hamas dagegen verstösst seit Jahren systematisch und in eklatanter Weise gegen das internationale Recht. Sie wird sich von Handlungen des ICC erst recht nicht beeindrucken lassen. Auch der politische Druck, die Geiseln freizulassen, blieb bisher wirkungslos.