In Majdal Shams tötete eine Rakete am Samstag zwölf drusische Kinder. Israel antwortete am Dienstagabend mit einem Luftangriff in der libanesischen Hauptstadt. Zu Besuch in einer Kleinstadt, in der die Drusen zwischen die Fronten geraten sind.
«Ich bin zum Fussballplatz gerannt und habe die Körperteile gesehen. Dort lag ein Arm, daneben ein Kopf», sagt Vival Abu Saleh mit Tränen in den Augen. Die 13-Jährige sitzt auf einem Plastikstuhl vor dem Gemeindezentrum mit einem schwarz umrahmten Foto ihres Cousins John Ibrahim auf dem Schoss. An diesem Samstagabend habe sie geahnt, dass vielleicht ihr Cousin unter den Toten auf dem Sportplatz sein könnte, sagt das Mädchen mit den grünen Strähnen im Haar. Wenig später hatte sie Gewissheit: Der 13-jährige John Ibrahim war tot – und mit ihm elf weitere Kinder, die am Samstag in der Kleinstadt Majdal Shams Fussball spielten.
Um 18 Uhr 18 heulten an diesem Abend die Sirenen. Sahar Safadi befand sich zu dem Zeitpunkt nur wenige hundert Meter vom Fussballfeld entfernt. «Sekunden danach hörte ich die Explosion und bin sofort hin gerannt», sagt der 26-Jährige einen Tag nach dem Angriff. «Ich fühle nichts, nur Leere. Die Bilder werde ich nie wieder los», sagt er, während er auf den Krater blickt, wo die Rakete einschlug.
Der Raketenangriff in Majdal Shams war eine Tragödie für die Kleinstadt in den israelisch besetzten Golanhöhen – und könnte der Funken sein, der den Flächenbrand im Nahen Osten auslöst. Laut israelischen Angaben hat der Hizbullah die Rakete aus Libanon abgeschossen, die Schiitenmiliz bestreitet das. Als Vergeltung für die Attacke bombardierte Israels Luftwaffe am Dienstagabend ein Ziel im südlichen Vorort von Beirut, der Hochburg des Hizbullah. Israel zielte laut eigenen Angaben auf den Kommandanten, der für den Angriff in Majdal Shams verantwortlich war.
An dem Ort, wo alles begann, befinden sich nun vier Blumenkränze auf dem Krater, der Zaun hinter dem Fussballfeld ist zerstört und versengt. Safadi und weitere junge Männer aus Majdal Shams durchkämmen die Umgebung nach menschlichen Überresten. Immer wieder bringen sie kleine, verkohlte Knochenstücke zum Transporter der jüdisch-orthodoxen Hilfsorganisation Zaka, die die Leichenteile sammelt.
Erst kürzlich hatte die Gemeindeverwaltung einen Schutzraum neben dem Fussballplatz aufgestellt. Er steht rund fünf Meter von dem Krater entfernt. Doch Majdal Shams liegt zu nah an der libanesischen Grenze. «Hier hat man nach dem Alarm drei Sekunden bis zum Einschlag», sagt Safadi. «In dieser Zeit ist dein Leben in Gottes Hand.»
«Ich sehe keine andere Möglichkeit als Krieg»
Nahezu alle der 11 000 Einwohner in Majdal Shams sind Drusen. Die monotheistische Religionsgemeinschaft hat sich im 11. Jahrhundert vom Islam abgespalten, zu ihren Propheten gehören Mohammed, Moses und Jesus. Die rund 150 000 Drusen werden in Israel hoch geachtet – es ist die einzige arabische Minderheit, die auch der Wehrpflicht untersteht.
Der Schmerz der Gemeinschaft ist am Tag nach der Fussballplatz-Tragödie überall zu sehen: Alle Geschäfte, Restaurants und Cafés sind geschlossen. Fast jeder Einwohner trägt schwarz. Im Rekordtempo befestigen junge Männer mit Kabelbindern und Klebeband unzählige schwarze Flaggen in der ganzen Stadt.
Nicht nur in der Kleinstadt am Fusse des Hermon-Bergmassivs herrschen Schock und Trauer, sondern in ganz Israel. Die israelische Politik ist sich schnell einig: Der Hizbullah muss für diesen tödlichen Angriff hart bestraft werden. Drei Tage nach dem Raketenangriff auf den Golanhöhen folgte dann die israelische Antwort.
Auf dem Fussballplatz hat sich Eliyahu Revivo eingefunden, ein Abgeordneter der Likud-Partei von Ministerpräsident Benjamin Netanyahu. Der 51-Jährige steht dem parlamentarischen Sonderausschuss für Israels Norden vor. Mit seinem dunkelblauen Anzug und der Krawatte sticht er aus der Menge hinaus. Der Hizbullah müsse sich nun endgültig aus dem Grenzgebiet zurückziehen, damit endlich wieder Sicherheit im Norden einkehre, sagt er. An Verhandlungen mit der libanesischen Schiitenmiliz in Libanon glaubt er nicht: «Wir haben keine andere Wahl, als dieses Ziel mit einem Krieg zu erreichen», sagt Revivo. «Ich sehe keine andere Möglichkeit.»
Tags darauf besuchen auch Verteidigungsminister Yoav Gallant und Ministerpräsident Benjamin Netanyahu Majdal Shams. Beide sagen, dass sie keinen Unterschied zwischen jüdischen und drusischen Kindern machten. «Israel wird und kann das nicht einfach hinnehmen. Unsere Antwort wird kommen, und sie wird stark sein», sagt Netanyahu vor Ort.
Der israelische Ministerpräsident hat nicht zu viel versprochen: Ein Angriff auf die libanesische Hauptstadt ist eine enorme Eskalation in dem Konflikt zwischen dem Hizbullah und Israel. Ein vollständiger Krieg könnte die Folge sein. Dabei wünschen sich die Einwohner von Majdal Shams nichts sehnlicher als Frieden – und mit einem israelischen Krieg wollen sie erst recht nichts zu tun haben.
Die Drusen der Golanhöhen verstehen sich als Syrer
Die Mehrheit der Drusen, die in den Golanhöhen leben, verstehen sich nämlich nicht als Israeli – auch wenn israelische Politiker nicht müde werden, das Gegenteil zu betonen. Die allermeisten halten bis heute zu Syrien, das die Golanhöhen bis 1967 kontrolliert hatte, bis Israel die Golanhöhen besetzte und sie 1981 offiziell annektierte, doch international wird das Gebiet nur von den USA als Teil Israels anerkannt. Auch die meisten Drusen in Majdal Shams sprechen von einer israelischen Besetzung.
Am Montag trauert nicht nur Majdal Shams, sondern die gesamte Drusengemeinschaft. Aus ganz Israel sind Drusen in den Golan gereist, um den Familienmitgliedern zu kondolieren und ihren Respekt zu erweisen. Dutzende Männer ziehen um die Statue des legendären Drusenführers Sultan al-Atrash und wiederholen Klagegesänge, bevor sie die Stufen zum Gemeindezentrum hinaufsteigen, wo die Väter der getöteten Kinder in einer Reihe stehen und die Beileidsbekundungen in Empfang nehmen. Es sind so viele gekommen, dass es minutenlang kein Vorwärtskommen auf den Stufen gibt.
Vor dem Eingang, etwas abseits vom Gedränge, steht Aiman Samara, dem eine Fabrik zur Verarbeitung von Lebensmitteln in Majdal Shams gehört. «Keiner hier hegt Rachegefühle», sagt der 53-Jährige. «Wir wollen einfach nur unser Leben in Frieden leben.» Er verstehe nicht, warum die israelische Regierung nun einen Krieg gegen den Hizbullah vom Zaun brechen wolle. Es sei offensichtlich, dass es sich bei dem Angriff um einen tragischen Fehler handle. «Der Hizbullah hat doch kein Interesse daran, ein syrisches Dorf unter israelischer Besetzung zu treffen.»
Die Drusen hätten nichts gegen die Israeli, stellt Samara klar. «Israel gibt uns alles, was wir brauchen. Uns geht es gut hier, aber wir bleiben trotzdem Syrer.» Mit dem Konflikt zwischen dem jüdischen Staat und der Schiitenmiliz in Libanon hätten die Drusen nichts zu tun.
«Israel soll keinen Krieg in unserem Namen führen»
Aus diesem Grund fallen die Solidaritätsbekundungen und das Versprechen eines harten Gegenschlags unter den Drusen auf taube Ohren. Von den Regierungsmitgliedern fühlen sie sich ohnehin nicht repräsentiert. Als Netanyahu am Montag in die Stadt kam, wurde er angeschrien und als Kriegsverbrecher beschimpft.
Während der Trauerfeier sitzt Scheich Abu Salim Ali Abu Jabel ganz hinten in der Halle. Er ist ein religiöser Führer der Drusen in Majdal Shams und trägt die weisse Kopfbedeckung der Gläubigen sowie ein langes schwarzes Gewand. «Netanyahu ist hier nicht willkommen, er hat unser Volk betrogen und er besitzt keine Ehre», sagt der 73-Jährige mit durchdringender Stimme. «Erst im vergangenen Jahr hat er den Befehl gegeben, auf uns Drusen zu schiessen.»
2023 war es nahe Majdal Shams zu Zusammenstössen gekommen zwischen Drusen und der israelischen Polizei, als die Bewohner gegen den Bau mehrerer Windräder protestierten. Die drusischen Demonstranten warfen Steine auf die Polizei, diese reagierte in Einzelfällen mit Beschuss. Es kam zu Verletzten auf beiden Seiten. «Wem spielt Netanyahu etwas vor?», fragt der Scheich aufgebracht.
Der Raketenangriff sei eine Katastrophe für Majdal Shams, sagt Scheich Abu Jabel. Seit der syrischen Revolution von 1925 seien nicht mehr so viele Menschen auf einmal in der Stadt getötet worden. Egal wer die Rakete abgeschossen habe, Gott werde die Verantwortlichen strafen. Doch auch der ältere Mann stellt klar, dass die Drusen einen israelischen Vergeltungsschlag ablehnen. Wenn die Israeli einen Krieg gegen den Hizbullah führen wollten, dann sei es so. «Aber dann sollen sie es nicht in unserem Namen tun – wir wollen keine Rache.»
Netanyahu habe er nicht getroffen, sagt Scheich Abu Jabel, die meisten anderen religiösen Führer aus Majdal Shams hätten ihn ebenfalls nicht gesehen. Trotz der Tragödie in dem Drusendorf glaubt Scheich Abu Salim Ali Abu Jabel an eine bessere Zukunft: «Ich hoffe, dass das Blut unserer Kinder zum Keim für Frieden im gesamten Nahen Osten wird.» Als rund einen Tag darauf die israelischen Bomben Beirut erschüttern, ist klar: Die Hoffnung des Scheichs bleibt auf absehbare Zeit nur ein frommer Wunsch.
Mitarbeit: Mary Böhm