Israel scheint gewillt, die Regeln des Schlagabtauschs an seiner Nordgrenze zu verändern. Was jetzt für eine Eskalation spricht – und was dagegen.
Es sieht aus, als hätte jemand mit einem grossen Stift eine Zickzacklinie durch die grünen Berge gezogen. «Rechts ist Libanon, links Israel», sagt Olga Yifrah, als sie auf die Grenzmauer zeigt. Nur dreieinhalb Kilometer liegt ihr Dorf, Avdon, von der libanesischen Grenze entfernt. Regelmässig gehen hier schon seit fast einem Jahr Raketen des Hizbullah nieder. «Gerade ist es so friedlich», sagt die Vorsitzende des Gemeinderates am Freitagnachmittag. Die knapp 200 Raketen, die die Schiitenmiliz an diesem Tag auf Israel abschoss, zielten vor allem auf Dörfer und Städte weiter östlich ab. «Aber die Situation kann jeden Moment explodieren.»
Yifrahs Worte sind prophetisch. Denn nur wenige Stunden später fliegt Israels Luftwaffe einen Angriff auf ein Wohnhaus in Dahiye, der Hizbullah-Hochburg im Süden der libanesischen Hauptstadt Beirut. Am Samstagmorgen ist klar: Israel hat mehrere hochrangige Kommandanten der libanesischen Schiitenmiliz getötet, darunter Ibrahim Akil. Er befehligte die Radwan-Eliteeinheiten des Hizbullah. Auch Ahmed Wahbi, der Verantwortliche für die Ausbildung neuer Kämpfer, gehört zu den Getöteten. Der Schlag vertieft die Krise der Miliz – und könnte die gesamte «Situation» an der libanesisch-israelischen Grenze zur Eskalation bringen.
Mit Akil tötet Israel wenige Tage nach den Angriffen auf Pager und Funkgeräte des Hizbullah den wichtigsten Militärkommandanten der Terrororganisation. Die Tötung von Akil sei mit der von Fuad Shukr Ende Juli zu vergleichen, den Israel ebenfalls in Beirut tötete, schreibt die Hizbullah-Expertin Hanin Ghaddar auf X. «Ohne sein Kommunikationssystem und seine militärische Führung kann der Hizbullah keine effizienten Militäroperationen durchführen.»
Trotzdem kann die Miliz so eine heftige Welle von israelischen Angriffen kaum unbeantwortet lassen – und Israel kündigte bereits an, den militärischen Druck auf den Hizbullah weiter zu erhöhen. Droht jetzt der grosse Krieg?
Israels «neue Phase» des Kriegs
Zumindest eins scheint klar zu sein: Die neue Phase des Kriegs an der Nordgrenze hat mit aller Kraft begonnen. Der Verteidigungsminister Yoav Gallant wählte diese Worte am Mittwoch nach der zweiten Explosionswelle von Kommunikationsgeräten in Libanon. Von nun an sei der Kampf gegen den Hizbullah die erste Priorität, Truppen aus dem Gazastreifen würden dafür abgezogen werden.
«Israel hat sich dazu entschlossen, vorsichtig und schrittweise die Situation zu eskalieren», sagt Giora Eiland, der bis 2006 Israels Rat für nationale Sicherheit leitete. Der frühere Generalmajor der israelischen Streitkräfte geht nicht davon aus, dass der Angriff in Beirut eine Vorbereitung auf einen vollständigen Krieg mit dem Hizbullah sei.
Wenn Israel den Krieg inklusive einer Invasion gewollt hätte, wäre am Mittwoch der beste Zeitpunkt gewesen, als die Kommunikationsinfrastruktur des Hizbullah grösstenteils lahmgelegt war. Dennoch habe Israel seine Strategie geändert und werde nun stärkere und schmerzhaftere Angriffe gegen den Hizbullah durchführen – um die Schiitenmiliz zu einem Kurswechsel zu bewegen.
Israels Ziel: Die Fronten entkoppeln
Hizbullah-Chef Hassan Nasrallah hat am Donnerstag abermals verkündet, dass seine Miliz die Angriffe auf Israels Norden erst einstellen werde, wenn im Gazastreifen die Waffen schweigen. Israelische Sicherheitsexperten gehen davon aus, dass Israel nun den Druck auf den Hizbullah erhöhen will, um die beiden Fronten im Süden und im Norden zu entkoppeln.
«Offenbar ist man in der israelischen Regierung zu dem Entschluss gelangt, dass die Chancen auf einen Waffenstillstand in Gaza sehr, sehr gering sind», sagt Eiland. Die Kosten für den Hizbullah sollen so sehr in die Höhe getrieben werden, dass sich die Miliz dazu entschliesst, auch ohne Feuerpause im Gazastreifen den Grenzkrieg einzustellen.
Israel versucht also einen Drahtseilakt: Eskalation, ohne die Grenze zum vollständigen Krieg zu überschreiten. So sagte der Verteidigungsminister Yoav Gallant am Freitag: «Die Reihe von Einsätzen in der neuen Phase des Krieges wird fortgesetzt, bis wir unser Ziel erreicht haben: die sichere Rückkehr der nördlichen Gemeinden Israels in ihre Häuser.» Gleichzeitig stellte der Armeesprecher Daniel Hagari klar, Israel ziele nicht auf eine umfassende Eskalation in der Region ab.
Doch, ob es dazu kommt, hängt nicht nur von Israel ab. Der Hizbullah ist nach Einschätzung von Sicherheitsexperten immer noch nicht an einem grossen Krieg interessiert, ist allerdings nun gezwungen, auf die demütigenden Angriffe dieser Woche zu antworten. Sollte ein Vergeltungsschlag der schiitischen Islamisten viele zivile Opfer in Israel fordern, ist wiederum mit einem harten Gegenschlag zu rechnen. Je stärker beide Seiten an der Eskalationsspirale drehen, desto wahrscheinlicher wird ein grosser Krieg – auch wenn ihn weder Israel noch der Hizbullah wollen.
Dort, wo die Auswirkungen eines vollständigen Kriegs am spürbarsten wären, hat sich nach fast einem Jahr Beschuss des Hizbullah Resignation breitgemacht. Olga Yifrah aus dem Grenzdorf Avdon schickt am Samstagmorgen eine Textnachricht: «Wir erwarten hier immer Angriffe – wahrscheinlich das nächste Mal mit mehr Raketen», schreibt die 44-Jährige. «Nichts hat sich verändert.»