Der Shin-Bet-Chef bezeichnet die Siedlergewalt und das Verhalten des Ministers für nationale Sicherheit als Bedrohung für den Staat. Sein Brief führt zu Chaos in Israels Regierung – und bestätigt, was viele internationale Partner hinter vorgehaltener Hand sagen.
Ronen Bars Brief war prophetisch. Wenige Tage bevor extremistische israelische Siedler das palästinensische Dorf Jit im Westjordanland überfielen und einen jungen Mann töteten, schickte der Chef des israelischen Inlandgeheimdienstes Shin Bet seinen Text ab. Adressaten waren einige ausgewählte israelische Minister und der Regierungschef Benjamin Netanyahu.
Der Brief des Shin-Bet-Chefs hatte vor allem ein Thema: Terrorismus durch Israeli, genauer durch radikale Siedler. Der Schaden, den diese terroristischen Akte dem israelischen Staat zufügten, sei unbeschreiblich. Bar sollte recht behalten. Selbst Israels engste Partner verurteilten den Überfall auf Jit in aller Schärfe.
Bar wies ausserdem auf das Sicherheitsrisiko hin, das paradoxerweise vom Minister für nationale Sicherheit ausgeht: Itamar Ben-Gvir hatte zuvor den Tempelberg in Jerusalem besucht. Dort befindet sich die Al-Aksa-Moschee, die drittheiligste Stätte des Islam. Bar warnte davor, dass «Entwicklungen in diese Richtung zu Blutvergiessen führen und das Antlitz des Staates Israel bis zur Unkenntlichkeit verändern werden».
Ben-Gvir gegen den Staat
Nachdem der israelische Nachrichtensender Kanal 12 den Brief am Donnerstagabend veröffentlichte, brach Chaos in der israelischen Regierung aus. Während Ben-Gvir die Entlassung des Geheimdienstchefs forderte, schoss Verteidigungsminister Yoav Gallant gegen seinen Kabinettskollegen. Gallants Büro teilte am Freitag mit, der Shin-Bet-Chef erfülle seine Pflicht, während Ben-Gvirs leichtsinniges Verhalten die nationale Sicherheit Israels gefährde.
«Im Kern geht es darum, dass Ben-Gvir versucht, das Gewaltmonopol des Staates auszuhöhlen», sagt der israelische Politikwissenschafter Gideon Rahat im Gespräch. In Teilen des israelisch besetzten Westjordanlandes sei das bereits geschehen.
Sollten gewalttätige Siedlerbanden weiter das Gesetz in die eigene Hand nehmen, würde sich Israel in einen gescheiterten Staat entwickeln, so wie Libanon oder Syrien. «Israel schöpft seine Stärke daraus, dass es ein mehr oder weniger demokratischer, funktionierender, westlicher Staat ist», sagt der Professor an der Hebräischen Universität Jerusalem. «Wenn Israel das nicht mehr für sich behaupten kann, wird es äussert verwundbar gegenüber äusseren Gefahren.»
Selbst die engsten Partner verurteilen Israel
Ähnlich wie der Politikwissenschafter sieht es auch Israels Geheimdienstchef. So kritisiert Ronen Bar in seinem Brief, dass die Siedler ihre Waffen teilweise direkt von staatlichen Stellen erhalten hätten. Ben-Gvir brüstete sich damit, Tausende Gewehre an zivile «Sicherheitsteams» ausgehändigt zu haben.
In seinem Schreiben nannte Bar drei Gefahren für den israelischen Staat, falls dieser die Siedlergewalt nicht unter Kontrolle bringt: weltweite Verurteilung selbst durch Israels engste Partner, eine Überlastung der Armee sowie das Risiko einer weiteren Front in Israels Krieg.
Gespräche mit europäischen Diplomaten in Tel Aviv bestätigen die Analyse des Shin-Bet-Chefs. Selbst Vertreter freundlich gesinnter Staaten sind erbost über die zunehmende Siedlergewalt im Westjordanland. Schon länger glauben sie nicht mehr der israelischen Erzählung, dass es sich um einige wenige schwarze Schafe unter den sonst rechtschaffenen Siedlern handelt. Es sei offensichtlich, dass diese extremistische Minderheit erhebliche finanzielle und politische Unterstützung erhalte, sagten zwei hochrangige europäische Diplomaten.
Der Tenor unter den Gesandten ist überall gleich: Durch die Tolerierung der Siedlergewalt legt Israel die Axt an seine eigene Sicherheit. Sollte sich nichts ändern, wären weitere Sanktionen gegen radikale Siedler und womöglich auch gegen Regierungsmitglieder wie Ben-Gvir programmiert.
In Israel wächst das Problembewusstsein
In Israel scheint man begriffen zu haben, dass sich etwas ändern muss. Am Donnerstag wurden vier Personen festgenommen, die am Angriff auf Jit beteiligt gewesen sein sollen. In der Vergangenheit wurden nach ähnlichen Überfällen nur wenige Siedler verhaftet, Gerichtsverhandlungen sind noch seltener. Schon die schnelle verbale Verurteilung vieler israelischer Politiker nach dem Angriff auf das Dorf im Norden des Westjordanlandes zeigt: Viele Regierungsmitglieder sind sich des Problems bewusst.
Dass aber substanzielle Veränderungen folgen, ist unwahrscheinlich. Denn Netanyahu ist auf die Unterstützung seines rechtsextremen Koalitionspartners Ben-Gvir angewiesen. Und dieser sei nicht kompromissbereit, meint Gideon Rahat. «Ben-Gvir fürchtet sich nicht vor einem grossen Krieg – der zum Beispiel durch seine Besuche auf dem Tempelberg ausbrechen könnte», sagt der Politikwissenschafter. «Vielleicht wünscht er ihn sich sogar herbei, um dann mit aller Kraft gegen die Araber in Israel und den besetzten Gebieten vorgehen zu können.»