Es wirkt zunächst utopisch: Ein Schweizer Unternehmer will ein neues Hongkong für Flüchtlinge bauen. Doch die Verhandlungen um den Landerwerb kommen gut voran.
Christian Kälin hält eine Landkarte in die Luft. Mit dem Finger zeigt er auf den Ort, wo seine Modellstadt für Flüchtlinge entstehen soll. Die Fläche ist so gross wie viele tausend Fussballfelder. «Sobald uns der Staat grünes Licht gibt, haben wir die grösste Hürde übersprungen», sagt er.
Genügend Investoren zu finden, sei dagegen die kleinere Herausforderung. Obwohl sich die Kosten auf mindestens 700 Millionen Dollar summieren. 20 000 Menschen sollen dort leben können – in einer ersten Phase. Das langfristige Ziel sei eine Million.
Kälins Plan, ein neues Hongkong für Flüchtlinge zu bauen, wirkte bis vor kurzem reichlich utopisch. «Ist das die Idee, die wir brauchen? Oder ist es Grössenwahn?», fragte die «NZZ am Sonntag», als sie vor wenigen Jahren erstmals über das Projekt berichtete. Jetzt ist der 53-jährige Schweizer gerade dabei, die Skeptiker eines Besseren zu belehren.
Direkter Draht in die Regierungszentralen
Diesen Erfolg verdankt Kälin einerseits seinem Beziehungsnetz: Nicht zufällig nennt man ihn den «Passport King». Denn er hat die Firma Henley & Partners zum weltgrössten Vermittler von Staatsbürgerschaften und Aufenthaltsbewilligungen («Golden Visa») aufgebaut. Nach eigenen Angaben pflegt seine Firma Kontakte zu jedem dritten Land auf dem Globus.
Der zweite Faktor, der Kälins Projekt Schub verleiht, ist die dramatische Zuspitzung der Migrationskrise, namentlich in Europa. Die Zahl der globalen Flüchtlinge hat sich in nur zehn Jahren auf über 100 Millionen verdoppelt. Der breite Unmut in der Bevölkerung führt dazu, dass oppositionelle, migrationskritische Parteien weltweit auf dem Vormarsch sind.
Doch wie kommt die Flüchtlingspolitik wieder aus ihrer Sackgasse? Plötzlich stösst der Ansatz von Christian Kälin auf Unterstützung, so auch diese Woche in Davos. Mit Herzblut referiert er an einem exklusiven Roundtable über die Fortschritte: Wo das Stück Land liegt, muss vorerst geheim bleiben – es ist indes kein EU-Staat. Die Verhandlungen seien weit fortgeschritten, sagt er. Nach dem Roundtable werde er erneut mit dem Regierungschef des entsprechenden Staates zusammentreffen, um das Projekt mit einer neu gegründeten Task-Force weiter voranzubringen.
Unter dem Dutzend Teilnehmern, die meisten sind Unternehmer, Fachspezialisten und potenzielle Investoren, entsteht sogleich eine lebhafte Diskussion über den von Kälin geplanten Standort. Der Ägypter Samih Sawiris, der mit seinen Tourismusstädten ein Milliardenvermögen aufgebaut hat, will zum Beispiel wissen, wie gross die Entfernung zum nächsten Flughafen sei. «Die globale Anbindung ist der wichtigste Faktor», sagt er. «Eine Stunde Autofahrt ist die kritische Grenze – länger darf die Distanz nicht sein, wenn man Investoren gewinnen will.» Darauf erklärt Kälin, der internationale Airport sei etwa zwei Autostunden entfernt. Geplant sei jedoch, einen nahe gelegenen Militärflugplatz auszubauen.
Stadtteil in Kairo errichtet
Geht es um die Errichtung einer städtischen Siedlung auf der grünen Wiese, so kann Sawiris mit seiner Erfahrung aus dem Vollen schöpfen. Er hat nicht nur riesige Tourismusprojekte am Roten Meer in el-Guna oder in den Schweizer Bergen in Andermatt realisiert. Im Grossraum Kairo hat er zudem Haram City aus dem Boden gestampft, einen neuen Stadtteil für die ärmere Bevölkerung mit 50 000 Einwohnern. Er habe damit keinerlei Profit erzielt, betont er.
Samih Sawiris lobt das Konzept einer autonomen Flüchtlingsstadt. «Die heutige Migrationspolitik kostet viele Milliarden. Doch dieses Geld ist oftmals schlecht investiert. Kälins Modell bietet deshalb eine Lösung, um das produktive Potenzial von fleissigen und talentierten Flüchtlingen besser zu nutzen.»
Christian Kälin sagt, er sehe die Stadt nicht nur als humanitäres Projekt, sondern ebenso als ein Geschäftsmodell. «Heute behandeln wir diese Personen primär als Empfänger von Almosen und geben ihnen keinerlei Perspektiven. Das führt dazu, dass sie oft in die Schwarzarbeit oder sogar in die Kriminalität abrutschen.»
Die Bewohner der geplanten Stadt sollen daher nicht nur legal arbeiten können. Sie sollen ebenso Eigentumsrechte besitzen und Steuern bezahlen. Damit das funktioniere, brauche die Siedlung neben den Investoren eine eigene Grenze. «Auf diese Weise können wir sicherstellen, dass es zu keinen unkontrollierten Ein- und Ausreisen kommt.» Zudem müssten sich alle Bewohner bewerben und danach einen Vertrag unterschreiben, erklärt Kälin: «Jeder gibt damit sein Einverständnis ab, dass er in sein Heimatland zurückkehren muss, falls er geltende Regeln verletzt.»
Sein Projekt orientiere sich in einigen Aspekten am Vorbild von Kanada, erläutert Kälin weiter. Auch dort würden gezielt gut qualifizierte Vertriebene ins Land geholt, die von ihrem Profil her passten. «Das entspricht dem Konzept der Immigranten, die sich kraft ihrer Leistung einen eigenen Wohlstand erwirtschaften können. Ich halte das für humaner, als wenn wir diese Menschen zu Sozialfällen degradieren, die oft nicht einmal ein Recht auf Arbeit besitzen.» Namentlich das Gesundheitswesen biete Chancen, um neue Jobs zu kreieren.
Kälin ist sich bewusst, dass sein Ansatz der bisherigen Praxis radikal widerspricht. Doch im Schnitt, so rechnet er vor, müsse ein Vertriebener 17 Jahre seines Lebens in einem Camp verbringen. Auch in den EU-Ländern sind die Unterkünfte dermassen überfüllt, dass erste Staaten ihre Aufnahmezentren auslagern. Italien will für eine solche Stätte in Albanien 600 Millionen Euro ausgeben. Konzipiert ist diese für 3000 Personen.
Zuwanderung wird weiter steigen
«Angesichts der Rekordzahl von Vertriebenen und der zunehmenden Herausforderungen im Zusammenhang mit der Migration sind neue und unvoreingenommene Ansätze dringend erforderlich», erklärt Peter Maurer, der bis 2022 das Internationale Komitee vom Roten Kreuz (IKRK) präsidierte. Das Modell einer autonomen Flüchtlingsstadt sei nicht nur eine kühne Vision, sondern ein praktischer Fahrplan, der keinen Stein auf dem anderen lasse, so Maurer.
Zu den Unterstützern zählt ebenso Kishore Mahbubani. Der Diplomat aus Singapur war Präsident des Uno-Sicherheitsrates. Nach seiner Meinung spricht auch das wachsende demografische Ungleichgewicht zwischen dem Süden und dem Norden für Kälins Lösung: Noch im Jahr 1950 lebten doppelt so viele Europäer wie Afrikaner, rechnet er vor. Inzwischen ist die Bevölkerung Afrikas bereits doppelt so gross. Und bis zum Ende des Jahrhunderts dürften 4,3 Milliarden Afrikaner 630 Millionen Europäern gegenüberstehen.
Der Zuwanderungsdruck aus Afrika werde weiter massiv zunehmen, folgert Mahbubani. Es brauche daher neue Flüchtlingsstädte auf dem ganzen afrikanischen Kontinent. Zudem sollten die europäischen Firmen ermutigt werden, dort zu investieren: «Die Logik ist einfach: Wenn Europa seine Arbeitsplätze nicht nach Afrika exportiert, wird Afrika seine Bevölkerung nach Europa exportieren», sagt er warnend.
Tatsächlich, so bestätigt Kälin, seien er und sein Team mit Staaten auf verschiedenen Kontinenten im Gespräch. Nebst dem nun vorliegenden Hauptprojekt seien auch zwei weitere Standorte bereits in einem relativ konkreten Stadium. Generell, so ergänzt er, seien kleinere Länder aufgrund der einfacheren Entscheidungswege besser geeignet.
Noch muss Christian Kälin damit rechnen, dass sein Plan womöglich nie umgesetzt wird. Doch für ihn lohne sich das Engagement ebenso, wenn er Ansätze für eine sinnvollere Flüchtlingspolitik aufzeigen könne. «Was ich zudem mit Bestimmtheit sagen kann: Von allen alternativen Konzepten ist unseres dasjenige, das trotz den sehr hohen Hürden am nächsten vor der Machbarkeit steht.»
Ein Artikel aus der «»