Ist Kompressionswäsche wie etwa jene von Kim Kardashians Trendmarke Skims, die gesunde Alternative zu Schönheitsoperationen?
Ohne die Schöpfungsgeschichte komplett auseinandernehmen zu wollen: Wer oder was auch immer den Menschen formte und danach fand, dass er oder sie einen ziemlich guten Job gemacht hatte, lag vollkommen daneben.
Zumindest die Geschöpfe selbst sind nämlich seit Jahrzehnten reichlich unzufrieden mit ihrem Körper. Deshalb setzen sie alles daran, ihn nach ihren Vorstellungen umzumodeln. Dies mit immer neuen Methoden. In den siebziger und achtziger Jahren hiess das noch «Bodybuilding» und war eine wirklich schweisstreibende Sache.
Doch das neueste Phänomen im Bereich Körperwelten lautet «Body Sculpting» und niemand repräsentiert dieses Zurechtmodellieren der eigenen Figur eindrucksvoller als Kim Kardashian. Die aus einer Reality-TV-Show bekannte milliardenschwere amerikanische Unternehmerin hat die Marke Skims mitbegründet. Das ist sogenannte «Shapewear», die formt und stützt. Oder anders gesagt: Kompressionswäsche für den ganzen Körper.
Bei Skims wird aber nicht einfach Unterwäsche verkauft, es werden «Lösungen» für den offensichtlich problembehafteten Körper angeboten. Das Versprechen lautet: Schlüpf in diese zweite Haut, und alles in deinem Leben läuft glatt. Der eng anliegende Stoff aus Nylon und Elasthan umschliesst den Körper, festigt ihn, quetscht ihn in der Taille zusammen, polstert am Hintern auf oder setzt feste Nippel auf den BH, damit es so aussieht, als hätte man gar keinen an und sei den ganzen Tag freudig erregt. Je nach Vorliebe – oder dem aktuellem Schönheitsideal von Kim Kardashian.
Rückblickend war der Wonderbra aus den neunziger Jahren nur der Anfang einer wundersamen Entwicklung, in der die Originalversion des Körpers allenfalls als Basispaket begriffen wird mit der Option auf spätere Optimierung.
Über vier Milliarden Dollar wert
Als Skims 2019 auf den Markt kam, ging es noch um hautfarbene Bodys und BHs für Frauen. Worin sich Kardashians Marke im Vergleich zu anderen Marken unterschied, war, dass es sie in vielen verschiedenen Hautfarben und in Grössen von XXS bis XXXXL gab. Das Produkt sollte inklusiv und «body positive» sein.
Mittlerweile ist das Unternehmen mehr als vier Milliarden Dollar wert und die Skimifizierung der Welt in vollem Gang. Um Vielfalt und Selbstliebe geht es aber nur noch bedingt. Die fast schon cartoonhafte Sanduhrfigur von Kim Kardashian ist ganz offensichtlich der eingeschnürte Goldstandard. Anfang des Jahres platzierte die Marke eine riesige Aufblaspuppe als Werbung am Times Square. Das Gesicht war gar nicht zu sehen, aber die Proportionen der Mitgründerin unverkennbar.
Klar, nicht alles lässt sich von aussen «shapen», ganz ohne Sport geht es für viele dann doch nicht. Und weil doch alle immer über schlechtsitzende Sport-BHs klagen und bei der Körperertüchtigung beziehungsweise -erschütterung die Hautschichten erst recht in Wallung geraten, besetzte Skims früh diesen Bereich. Die amerikanischen Athleten trugen die Wäsche bereits bei den Olympischen Spielen in Tokio, Skims ist offizieller Ausstatter der Basketballer der Profiliga NBA, zuletzt gab sogar der Sportgigant Nike eine Zusammenarbeit bekannt, um beim Megatrend «shapen» dabei zu sein.
Es gab Kooperationen mit Fendi, The North Face, Swarovski und Dolce & Gabbana, die die Webseite zum Einstürzen brachten. Als die Serie «The White Lotus» anlief, modelte der Darsteller Patrick Schwarzenegger mit seiner Verlobten die neue «Wedding Edition». Männer werden längst mit abgedeckt, zurzeit nur mit «normaler» Unterwäsche, aber Shapewear, die etwa den Bierbauch wegquetscht, sei natürlich in Planung, heisst es. Wahrscheinlich nur eine Frage der Zeit, bis auch die Nasa-Kollektion für Weltraumreisende, Schlafanzüge mit biometrisch gesteuerter Kompression und Babystrampler für einen festen Start ins Leben auf den Markt kommen.
Zusammenquetschen oder aufpolstern
Es gibt Kundinnen, die in Werbevideos sagen, die Boxershorts, das «Body-Dress» oder der «Butt-Lifting-Bodysuit» hätten ihr Leben verändert. Als hätten sie es vorher nicht im Griff gehabt. Sie schwärmen davon, dass sie sich kurviger, knackiger, selbstbewusster fühlen. Und viele wundern sich erst einmal ausführlich, wie eng die Sachen sitzen, obwohl sie ihre richtige Grösse bestellt haben. Sie geben zwar zu, dass ihnen schlecht wurde oder sie fast in Ohnmacht fielen beim Tragen – trotzdem scheint ein Dasein ohne die neue Stütze kaum noch vorstellbar.
So wie viele mittlerweile automatisch einen Filter über Fotos legen, ziehen sie nun morgens beim Ankleiden ganz selbstverständlich eine zweite feste Schicht über die Haut. Während früher beige Grosi-Formwäsche verschämt versteckt wurde, blitzt sie jetzt ständig unter Minikleidern, Tops und Hochzeitsroben hervor. Kim Kardashian und ihr Schönheitsideal haben sich ganz geschmeidig in den Zeitgeist eingeschlichen.
Aber man kann es ja auch einmal positiv betrachten! Schliesslich geht so ein bisschen Zusammenquetschen oder Aufpolstern deutlich harmloser vonstatten als eine Schönheitsoperation. Sollen sich die Leute nicht lieber in eine hautfarbene Wurstpelle zwängen, statt sich täglich eine Ladung Ozempic zu spritzen? Schliesslich sitzt Shapewear nur auf der Haut, nichts dringt unter diese.
Vielen Kundinnen mag es auch gar nicht so ums Dünnsein gehen, sondern mehr um Formgebung, definierte Kurven und das Gefühl der Festigung. Aber das Motiv hinter diesen Massnahmen bleibt letztlich eben doch dasselbe: die ständig zunehmende Body-Obsession unserer Gesellschaft, gepaart mit der wachsenden Anspruchshaltung, dass es für alles eine Lösung gibt.
Invasive Eingriffe, Spritzen und Shapewear zum Abrunden
«Nachhelfen» war noch in den achtziger Jahren ein zutiefst negativ konnotierter Begriff. Wer sich liften, etwas verkleinern oder vergrössern liess, schummelte nicht nur im Wettlauf mit der Natur, sondern auch mit vermeintlich fairen Mitspielerinnen. Wer sich in Form bringen oder in «Shape» bleiben wollte, musste das bitte schön schon unter Schweiss und Tränen selbst erledigen.
Doch mittlerweile hat sich beim Übergang von der körperlich hart schuftenden Arbeitswelt zur Dienstleistungsgesellschaft auch in Sachen Körperkult durchgesetzt, dass es viel bequemer und effizienter ist, sich die richtige Unterstützung einfach zu holen. So wie IT-Beratung, Hausreinigung und Steuerkram wird auch die Bildhauerei an der eigenen Skulptur mehr und mehr ausgelagert.
Dabei sind die Übergänge fliessend. Wer es sich leisten kann und ambitioniert genug ist – siehe die Kardashians – bedient sich der kompletten Angebotspalette von «Lösungen»: invasive Eingriffe, diverse Spritzen, Shapewear zum Abrunden. Den weniger Bemittelten oder Bedenkenträgerinnen bleibt immerhin die Grundausstattung in Form von «foundation garments», wie die elastische Unterwäsche ebenfalls genannt wird. Die Einsteigerversion für die Massen.
Die Idee, mit dem eigenen, womöglich schon leicht schrumpeligen Hinterteil unter dem dünnen Kleid einfach so hinaus in die Welt zu ziehen, ist in einer lösungsorientierten Gesellschaft nicht mehr vorgesehen. Während jede Delle unter dem Deckmantel der Body Positivity noch vor kurzem willkommen geheissen wurde, grenzt es nun fast schon an Zumutung, sich so gehen zu lassen beziehungsweise sich nicht helfen zu lassen. Wer sich selbst noch halbwegs im Griff hat, bringt gefälligst auch seinen Körper unter Kontrolle.