Seit dem Mittelalter werden im südlichen Apennin Glocken hergestellt. Sie werden heute in die ganze Welt verkauft. Der Prozess erfordert Zeit und Innehalten. Für den Bürgermeister des kleinen Orts ist es ein Konzept, mit dem er seine Gemeinde wiederbeleben möchte.
Es ist kalt in Agnone in diesen frühen Apriltagen. Auf den nahen Bergen hat es noch einmal geschneit. Die wenigen Menschen in den Gassen des 5000-Seelen-Städtchens tragen dicke wattierte Jacken, Mützen, Handschuhe. Auf einer Tafel macht Capracotta, die Nachbargemeinde, Werbung für Skipisten und Langlaufloipen.
Dabei sind wir in Süditalien, gerade einmal je rund 150 Kilometer von Neapel und Rom entfernt. Die Autofahrt an die Adria würde nur noch eine knappe Stunde dauern.
Agnone liegt in der Region Molise, einer wenig bekannten Gegend Italiens. Es ist ein grüner Landstrich ohne Autobahnen, es gibt keine Hochgeschwindigkeitszüge und kaum Industrie. Dafür Weiden und Wälder.
Was sie hergeben, sieht man in den Geschäften entlang der Strassen, die durch Agnone führen: Caciocavallo, Käse in Form einer Kugel oder eines Beutels. Oder Würste in jeder nur erdenklichen Variante: vom Wild, Rind, Kalb, Schwein. Nicht weniger als sechs Metzgereien gibt es entlang der Via Roma und der Via Matteotti. Veganer hätten es hier schwer. Zum Mittagessen in der «Osteria mia» gibt es, nicht zu knapp, köstliche Ravioli, gefüllt mit «Porchetta», geröstetem Schweinefleisch. Kein Ort in diesem Land, wo nicht das Essen an erster Stelle kommt!
Handwerkliche statt künstliche Intelligenz
Bekannt ist Agnone allerdings wegen der Glocken. Denn die Glocken, die seit dem Mittelalter von der Familie Marinelli gegossen werden, sind die Hauptattraktion des Ortes. Ihretwegen ist Papst Johannes Paul II. im März 1995 hierher gereist, ihretwegen besuchen jährlich 30 000 bis 40 000 Menschen das Städtchen. «Die Giesserei ist unsere Visitenkarte», sagt Daniele Saia, der Bürgermeister von Agnone. Seit über hundert Jahren darf die Giesserei das päpstliche Wappen verwenden. Papst Pius XI. hat es den Marinellis 1924 verliehen.
Die Marinellis arbeiten auch in der 27. Generation noch genau so wie ihre Vorväter. «Intelligenza artigianale» nennt es der 55-jährige Pasquale Marinelli, der zusammen mit seinem älteren Bruder Armando das Geschäft führt. Nur auf Italienisch ergibt das ein hübsches Wortspiel: «Intelligenza artigianale» statt «intelligenza artificiale», wiederholt der Patron und lacht, als er die Hand zur Begrüssung ausstreckt: handwerkliche statt künstliche Intelligenz, darum geht es hier.
Glocken kann man heute effizienter herstellen, als es die Marinellis tun: rascher, industrieller, mit weniger Personal. «Wir haben unsere Produktionsprozesse seit tausend Jahren nicht mehr verändert», sagt Marinelli. In der Tat: Friedrich Schiller hätte seine Freude daran, wenn er die Fabrikationshalle mitten im Städtchen betreten würde. Es riecht nach Feuer und Erde, alles läuft noch genau so ab, wie es Schiller im «Lied von der Glocke» beschrieben hat. «Fest gemauert in der Erden, steht die Form, aus Lehm gebrannt», heisst es da.
Und so ist es: In einem Erdloch wartet das, was später eine Glocke für ein Geläut in Vietnam werden soll, auf seine Befreiung aus dem dicken Lehmmantel.
Mit einem Flaschenzug – elektrisch angetrieben, so viel Modernität ist dann doch – wird die Form angehoben. Dann wird sie von Pasquale Marinelli und einem Mitarbeiter mit grossen Hämmern traktiert, bis die Lehmschicht abfällt. Darunter kommt die grosse Bronzeglocke zum Vorschein. Sie ist etwa einen Meter hoch. Marinelli nimmt eine grobe Bürste, reinigt die Oberfläche und zeigt uns die Verzierungen. «Es ist jedes Mal ein emotionaler Moment für uns», sagt er. Man wisse nie, ob es am Ende eines Prozesses, der drei bis vier Monate dauere, auch gut herauskomme. Deshalb rufen Pasquale Marinelli und seine Mitarbeiter jeweils die heilige Maria an, wenn sie die auf 1200 Grad erhitzte Bronze in eine Glockenform giessen. Denn das sei der Zeitpunkt, ab dem sie keinen Einfluss auf das Produkt mehr hätten. «Dann vertrauen wir auf das, was über uns steht.»
Gesicherte Nachfolge
Pasquale Marinelli ist ein grosser, starker Mann –Kinnbart, heisere Stimme, Übergewand, robuste Schuhe. Der Lehmstaub hat sich in seinen Haaren und auf den Kleidern festgesetzt. Zusammen mit seinem Bruder sei er das Faktotum im Betrieb, meint er. Schon als kleiner Bub habe er zwischen Lehmhaufen, Werkstatt und Öfen gespielt, einmal habe er sich die Hand dabei schwer verbrannt. Die Giesserei ist sein Leben. Und natürlich freut es ihn, dass schon die nächste Generation im Betrieb steht.
«Einer von uns war immer ein Künstler», erklärt er und zeigt auf Ettore, seinen 34-jährigen Neffen, der in einer anderen Ecke der riesigen Halle arbeitet. Ettore mache auch Skulpturen und andere Kunstobjekte und sei zusammen mit einer Kollegin für die Verzierungen der Glocken zuständig. Die Vorfahren haben ihnen Hunderte, ja Tausende von Kalkmodellen hinterlassen mit den Sujets, die die Kunden über die Jahrhunderte gewünscht haben: Engel, Madonnen, Heilige, Wappentiere. «Man müsste es einmal ordnen», sagt der Patron seufzend, als wir den Raum betreten, in dem ein Teil dieses Schatzes aufbewahrt wird.
Die Zeit sei stehengeblieben in der Giesserei der Marinellis. Alle sagen das, wenn sie den Betrieb besichtigen. Aber es ist nur die halbe Wahrheit. Zum Gesamtbild gehört auch, dass die Glocken aus Agnone in der ganzen Welt zu finden sind. Es gibt sie nicht nur in Pompeji und im Vatikan, sondern auch in Peking, Jerusalem und am Uno-Hauptsitz in New York. Der kleine Betrieb ist global tätig. Und – trotz allem – im 21. Jahrhundert angekommen: Die Marinelli-App erlaubt Berechtigten die Inbetriebnahme eines Geläuts aus der Distanz. Selbst wenn der Pfarrer unterwegs ist, kann er so zum Gebet rufen – virtuell.
Die Entdeckung der Langsamkeit
Es ist keine abgeschottete Welt hier oben. Aber eine verlangsamte. Der Guss einer Glocke ist die Krönung, aber er steht am Ende eines sehr langen Produktionsprozesses. «Parvus error in principio magnus est in fine», steht auf einem Zettel, den jemand ausgedruckt und in der Werkstatt aufgehängt hat. Frei übersetzt: Ein kleiner Fehler am Anfang ist ein grosses Problem am Ende. Deshalb nimmt man sich Zeit und denkt erst einmal nach. Bloss keine Hektik!
Das passt gut zu dem, was Experten als Zukunftskonzept für strukturschwache Regionen wie Molise vorschlagen: «vita lenta», ein langsames Leben, im Einklang mit Natur, Kultur und Traditionen. Oder neudeutsch: «slow living» – ein Ansatz für Frauen und Männer, welche die Stürme des Lebens hinter sich haben und an der Schwelle zum Ruhestand stehen. Im überalterten Italien sind sie ein Wirtschaftsfaktor, der zunehmend ins Gewicht fällt. Eine interessante Zielgruppe.
In Molise hofft man darauf, dass einige von denen, die weggezogen sind, nach der Pensionierung zurückkehren, fernab von der Hektik, dem Lärm und der schlechten Luft der Städte. Für ausländische Rentner gelten sogar besondere steuerliche Anreize, um sie zur Verlegung ihres Wohnsitzes in diese und andere entlegene Gegenden zu bewegen. «Ich bin überzeugt, dass es zu einer Rückkehr in diese Landstriche kommt», sagt auch der Bürgermeister, der darauf setzt, dass so die Entvölkerung gebremst werden kann.
Als wir am Abend von Agnone nach Isernia zurückkehren, den Hauptort der Provinz, von wo es Züge nach Rom und Neapel gibt, machen wir einen Umweg über das Werksgelände von DR Automobiles. Dieser Betrieb beschäftigt rund 500 Mitarbeiter und hat sich auf den Import, die Montage und den Vertrieb chinesischer Fahrzeuge spezialisiert. Er erobert laufend Marktanteile in Italien und fordert die Konkurrenz heraus.
Die Fertigungshallen sind grosszügig und zeitgemäss. Als wir vorbeifahren, ist gerade Schichtwechsel. Angestellte in blauen DR-Overalls eilen an ihre Arbeitsplätze. Es ist eine andere Welt als jene oben in Agnone. Und man fragt sich, wo die Zukunft dieser Region liegt: im Hinterland, wo die Langsamkeit regiert? Oder in Isernia, wo in hoher Kadenz Autos aus China zusammengebaut werden?