Erst bei Sika, dann bei Holcim: Jenisch gilt als Brachialgewalt. Doch das will er gar nicht sein. Sondern mehr so wie Buddha.
Beim dritten Baumhaus zeichnete sich ab, was aus Jan Philipp Jenisch werden kann. Mit den ersten beiden Versuchen war er nicht zufrieden. Die Suche nach Material war schwierig. Ebenso, daraus etwas Stabiles zu bauen – und das auf einem Baum im Wald, wo er nicht bauen durfte. Doch der Garten des Elternhauses in Freiburg im Breisgau war viel zu klein. Immerhin: Der dritte Versuch war ziemlich gut.
Etwas erschaffen und entstehen lassen, das hat Jan Jenisch immer fasziniert. Vor den Baumhäusern waren es Sandburgen. Heute sind es Weltkonzerne. Der Deutsche ist der dienstälteste Firmenchef unter den 20 Top-Unternehmen im wichtigsten Schweizer Aktienindex SMI. Zwölf Jahre war er CEO. Zuerst ab 2012 beim Bauchemiehersteller Sika, dann seit 2017 beim Zementriesen Holcim. Dort hat er die Chefrolle vor ein paar Tagen weitergegeben. Aber Jenisch bleibt Verwaltungsratspräsident – ein Mandat, das er vor rund einem Jahr zusätzlich übernommen hat.
Jenisch gilt als «Bulldozer» – seine Frau findet das lustig
Die Generalversammlung wird seine Präsidentschaft am Mittwoch bestätigen. Der 57-Jährige will ein grosses Projekt stemmen: Holcim aufspalten. Das Nordamerikageschäft soll vollständig vom Rest des Konzerns abgetrennt werden. Der Schritt ist ebenso überraschend wie radikal. Jenisch schafft wieder etwas Neues – und wieder scheint er das Bild zu bestätigen, das von ihm kursiert: durchsetzungsstark, hartgesotten, ein Überflieger. «Bulldozer» hat ihn vor ein paar Jahren das Magazin «Bilanz» genannt.
Der Ausdruck «Bulldozer» amüsiert seine Ehefrau ungemein. Jenisch findet ihn zu eindimensional. Er hat versucht, sich mehr in Richtung eines «Buddha» zu entwickeln: führen durch Zuhören und den Menschen helfen, sich zu entwickeln. Diese Einsicht musste er selbst erst entwickeln, deshalb ist sie ihm wichtig. Doch Jenisch anerkennt, dass der «Bulldozer» ein Kompliment dafür ist, wie er mit Schnelligkeit und konsequenter Umsetzung das Wachstum vorantreibt.
Fair sein, das war schon seinem Vater wichtig. Der hatte als Kind den Krieg erlebt, dann Werkzeugmacher gelernt, später noch Elektrotechnik studiert. Wohlstand war etwas anderes, aber er schaffte den Aufstieg. Die Arbeiterherkunft prägt den Vater. Die Familie wählte sozialdemokratisch, am Familientisch in Freiburg wurde über Kriegsrenten diskutiert. Fairness, Fleiss und Bildung, das schätzten die Eltern.
Als der 1966 geborene Jan grösser wurde, wurde Freiburg zu klein. Viel Landschaft und viel Wald, aber aus den Baumhäusern wächst man raus. Es gab keine grossen Firmen und wenig Industrie – also wenig Interessantes. Wohin nach dem Abitur, der deutschen Matura? Er schaute sich um und wählte als Alternative zu Freiburg im Breisgau: Freiburg im Üchtland. Rüber über die Schweizer Grenze, zum Studium der Betriebswirtschaft. Denn Bildung war wichtig.
Weg vom Schreibtisch – rein in die Welt
Ende 2021 verlieh die Universität Freiburg Jenisch die Ehrendoktorwürde, knapp dreissig Jahre nach seinem Abschluss. Dabei hat er das Studieren nie geliebt. Die Praxis ist sein Ding. Arbeiten macht mehr Spass als herumsitzen. Dahin gehen, wo Fabriken und Labore sind, wo produziert wird, wo Kunden sind, das ist spannender als die Universität. Diese Begeisterung hat sein Leben geformt. Er fühlt sich dort wohl, wo er mit Ingenieuren, Entwicklern und Unternehmern sprechen kann. «Zu einer Luxusgüterfirma hätte ich es nie geschafft», sagt er im Gespräch. Aber zum Beispiel Klebstoff, der ist grossartig.
So kam Jenisch 1996 zu Sika. Damals noch ein traditioneller Bauzulieferer für Betonzusatzstoffe und Mörtel, begann das Schweizer Unternehmen, mit Industrieklebstoffen zu experimentieren. Als Alternative zum Schweissen spielten diese in der Produktion eine immer grössere Rolle. Sika lieferte Klebstoff zum Bau von Bussen oder von Schiffen. Jenisch stieg als Projektleiter in den kleinen Bereich zur Belieferung der Automobilindustrie ein.
Dieser Jenisch war noch mehr Bulldozer als Buddha. Wer verkaufen will, muss sein Team disziplinieren können, damit die Preise stimmen. Er muss sich durchsetzen können. Der Erfolg gab Jenisch recht: Schnell wurde er Verkaufsleiter und steigerte innerhalb von fünf Jahren den Umsatz der Autosparte von 5 Millionen auf 100 Millionen Franken. Immer war er auf Achse, unterwegs zu Kunden, und hat fast jede Autofabrik in Europa von innen gesehen.
Aber er hat auch gesehen, dass es anders geht. Das war ein prägendes Erlebnis: Als Jenisch frisch bei Sika war, machte der damalige Konzernchef die Runde. Er fragte den Neuzugang nach dem Namen, seiner Aufgabe und bat ihn um einen Bericht. Drei Monate später traf Jenisch den Chef zufällig wieder – und der konnte sich aus dem Stand nicht nur an seinen Namen erinnern, sondern lobte auch den Bericht. Der neue Mitarbeiter war tief beeindruckt.
Für Jenisch ist es Wettstreit – für manch andere Streit
«Ich habe nie vergessen, wie ein CEO mit Zuhören und Respekt die Mitarbeiter derart motivieren kann», sagt er. Abkapseln ist keine Option. Je involvierter der Chef ist, desto kompetenter. Wer unfair, intransparent und miesepetrig ist, der ist destruktiv. Wenn eine Firma eine Hierarchie in Form einer Pyramide haben soll, dann muss es eine umgekehrte Pyramide sein – und der Boss steht ganz unten. Er ist das Fundament.
So weit das Ideal. Jenisch sieht seine Aufgabe darin, die Mitarbeiter zu unterstützen, das Beste aus sich zu machen. Er geniesst den Austausch und die Herausforderung im Wettstreit der Argumente. Sein eigenes Büro in der Holcim-Zentrale in Zug hat er längst aufgegeben. Er sass eh nie drin. «Stattdessen laufe ich herum und unterhalte mich.» Er will den Mitarbeitern zuhören.
Andere sagen, er nervt. Herausforderungen fordern auch das Gegenüber. Jenisch ist direkt, denn er will ehrlich und authentisch sein. Das zeigt Wertschätzung. Doch ein Mitarbeiter sieht sich selten auf Augenhöhe mit dem obersten Chef. Manche, die mit ihm gearbeitet haben, erlebten den Austausch als ständige Konfrontation, als ständigen Streit. Negative Schwingungen schüttelt Jenisch einfach ab. Nicht jeder kann das. Nicht jeder will das.
Im Jahr 2012 hatte sich Jenisch durch die Reihen hochgearbeitet und trat die Rolle als CEO von Sika an. Zwei Jahre später wollte die Familie des Sika-Gründers ihre Aktien an den französischen Baustoffkonzern und Konkurrenten Saint-Gobain verkaufen. Das hätte die übrigen Aktionäre stark benachteiligt. Der Verwaltungsrat unter Präsident Paul Hälg wehrte sich. Der härteste Übernahmekampf der Schweiz brach vom Zaun.
Jenisch will vorwärts – Abbau ist keine Strategie
Jenisch schloss sich dem Widerstand an. «Die allermeisten CEO hätten dieser feindlichen Übernahme wohl zugestimmt», sagt er. Jenisch nicht, denn er fand sie falsch. Es sei eine extreme Zeit gewesen. Was hat er aus ihr gelernt? «Das Gute siegt.» In solchen Kategorien argumentiert Jenisch selten.
Noch bevor der Konflikt endgültig gelöst war, wechselte Jenisch im Jahr 2017 zu Holcim. Auch dort expandierte er und baute um, schränkte das herkömmliche Zementgeschäft ein und stieg in die Produktion von höherwertigen Baumaterialien ein, zum Beispiel von Dachelementen. 80 Firmen hat Holcim in den vergangenen fünf Jahren zugekauft.
Keine der erworbenen Fabriken wurde stillgelegt. Jenisch will immer wachsen, immer vorwärts. Neue Märkte, neue Kunden, neue Produkte für neue Bedürfnisse, zum Beispiel klimaschonender Zement. «Zu viele Chefs agieren wie Buchhalter», sagt er. Sie sehen ihre Firma als Objekt, wollen Kosten senken und Mitarbeiter entlassen. Sie verkaufen Abbau als Strategie, referieren über Frankenstärke und Zinsentwicklungen. Jenisch findet das frustrierend.
Prioritäten zählen: Ein Chef muss seine Zeit in die Firma stecken, sie erfolgreich machen und langfristig entwickeln. Das fördert dann den Aktienkurs. Nicht umgekehrt. Jenisch weist den Verdacht zurück, Holcim wolle das Nordamerikageschäft nur deshalb abspalten, um die Aktienkurse der beiden getrennten Einheiten in die Höhe zu treiben.
Jenisch wird älter – jetzt heisst es, von den Jungen lernen
Kein Aktionär habe den Anstoss zu dem Plan gegeben, bekräftigt er. Auch nicht Thomas Schmidheiny aus der Holcim-Gründerfamilie, der noch 6 Prozent am Konzern hält. Stattdessen wurde der Spin-off über ein Jahr hinweg in grosser Runde der obersten Manager entworfen. «Es wäre falsch, zu sagen, das sei meine Idee gewesen. Das hat sich in dieser Gruppe entwickelt», sagt Jenisch.
Die betriebliche Logik: Mit mehr als 11,5 Milliarden Dollar Umsatz sei die Einheit zu gross, um sie weiterhin innerhalb des Konzerns zu führen. Auch würden sich die dortigen Rahmenbedingungen im Vergleich mit Europa immer stärker unterscheiden, argumentiert Jenisch. Er denkt an die massiven Subventionen, mit denen Präsident Joe Biden die amerikanische Wirtschaft stärken will.
Jetzt ist seine grosse Aufgabe, Holcims Nordamerika-Bereich organisatorisch fit zu machen für die Börse. Zuhören und sich austauschen will Jenisch aber weiterhin, gerade mit den jungen Mitarbeitern. Die Megatrends heissen Dekarbonisierung, Digitalisierung und Diversity. «Diese Themen werden von den Jungen ausgefochten, nicht von meiner Generation.» Sein Sohn und seine Tochter, beide im Teenageralter, lassen ihn das ständig spüren.
Im Herbstsemester übernimmt Jenisch, der ehemals wenig begeisterte Student, an der Universität Freiburg ein Seminar zum Thema «Fallstudien internationaler Strategie». Das ist praxisorientiert. Er freut sich so darauf, als dürfte er über Baumhäuser reden. Das ist seine Welt. In Country-Klubs kann man ihn nicht antreffen.