Dem nationalistischen Rassemblement national ist der Triumph in der Europawahl sicher. Das liegt vor allem am 28-jährigen Spitzenkandidaten.
Noch vor dem 40. Geburtstag Spitzenpolitiker zu werden, ist in Frankreich seit der Wahl von Emmanuel Macron keine Seltenheit mehr. Auch Jordan Bardella hat das geschafft, und erst noch unter erschwerten Bedingungen. Weder familiäre Beziehungen noch ein universitäres Netzwerk haben dazu beigetragen, dass der 28-Jährige der gefährlichste Gegenspieler des ebenfalls erst 35 Jahre alten Regierungschefs Gabriel Attal ist.
Seine grösste Förderin will schon vor Jahren sein ausserordentliches politisches Talent erkannt haben. Als Jugendlicher hatte er um einen Termin bei Marine Le Pen gebeten, die er verehrte und für deren Partei er in den Vororten von Paris Flugblätter verteilte. Das Treffen war der Beginn einer immer enger werdenden Beziehung.
Bardella engagierte sich für die rechtsnationalistische Partei, die damals Front national hiess – und das so sehr, dass er nie einen Beruf erlernte, geschweige denn ausübte. Doch Marine Le Pen belohnte ihn: Mit 23 Jahren sass er im Europaparlament, und bald darauf ernannte sie ihn zu ihrem Stellvertreter. Vor eineinhalb Jahren überliess sie ihm dann den Platz an der Spitze der Partei, die bisher nur von der Familie geführt worden war.
Ein «Secondo» – mit Rückversicherung
Neben seinem Talent erkannte Le Pen, dass Bardella geeignet ist, die Wählerbasis des RN zu vergrössern: auf der einen Seite bei den jüngeren Wählern, auf der anderen Seite im Arbeitermilieu, möglicherweise sogar bei den Arbeitern mit Migrationshintergrund. Bardellas Person ist dafür prädestiniert: Drei seiner vier Grosseltern sind aus Italien nach Frankreich gekommen.
Jordan wuchs mit seiner alleinerziehenden, in Italien geborenen Mutter im berüchtigten Département Seine-Saint-Denis nordöstlich von Paris auf. Er kenne die Probleme der Vorstädte und ihrer Bewohner aus eigener Erfahrung, sagt er. Die Ursache der Missstände sei die ungebremste Einwanderung von Menschen, die sich nicht integrieren wollten – ganz im Gegensatz zu seinen Grosseltern. Auch habe seine Mutter, die als Unterrichtsassistentin in Kindergärten arbeitete, oft Mühe gehabt, die monatlichen Ausgaben zu stemmen. Will heissen: Bardella weiss, wie das Prekariat lebt.
Dass sein Vater es als Unternehmer zu beträchtlichem Wohlstand brachte und seinem Sohn eine Reise nach Amerika, sein erstes Auto und die Wohnung in einer besseren Gegend ermöglichte, liest man höchstens in Biografien über ihn. Heute trägt das Kind aus der Banlieue jedenfalls perfekt sitzende Anzüge. Mit der stets akkuraten Frisur, seinem breiten Grinsen und seiner höflichen Art geht er vielen als idealer Schwiegersohn durch – oder sogar als Idol.
Bardella ist auch zum Tiktok-Star avanciert. An den Präsidenten kommt er zwar nicht heran, aber er hat mehr Follower als Marine Le Pen und auch als Gabriel Attal. Wer ihn kennenlernen wollte, konnte im Januar seiner Einladung in einen Pariser Nachtklub folgen. Dort hielt er sich nicht lange mit dem politischen Programm auf, posierte aber bereitwillig für Selfies. Die Umfragen zeigen, immer mehr Franzosen finden Bardella sympathisch.
An Le Pens kurzer Leine
Dass Le Pens Strategie aufgeht, zeigt auch die Europawahl. Mit Bardella als Spitzenkandidaten führen die Rechtsnationalen seit Wochen die Umfragen so deutlich, dass ihr Triumph als sicher gilt. Zumal Bardella auch den Wahlkampf souverän meistert. Vergangene Woche duellierte er sich zur Primetime im staatlichen Fernsehen mit Gabriel Attal.
Die Begegnung war kritisiert worden, weil Attal selber gar nicht zur Europawahl antritt und die anderen Bewerber nicht eingeladen worden waren. Die Vermutung liegt nahe, das Regierungslager habe auf dieses Format gedrängt, um die Nationalisten diskreditieren zu können.
Doch der Plan ging nicht auf. In der Befragung am Folgetag befand eine deutliche Mehrheit, Bardella habe sich besser geschlagen als Attal. Inhaltliche Patzer unterliefen beiden. Bardella befand sich zwar oft in der Defensive, aber er wirkte ruhiger, gesetzter. Und er war höflicher, etwa wenn er Attal aufforderte, «bitte elegant zu bleiben», schliesslich sei er Regierungschef.
Bardella ist also der Shootingstar des RN geworden. Setzt er auch neue Akzente in der Partei? Inhaltlich unterscheidet er sich kaum von Marine Le Pen. In öffentlichen Auftritten spricht er in Sätzen, die genauso aus ihrem Mund kommen könnten: dass die Einwanderung – eine angeblich von der Elite geförderte Ideologie – eine existenzielle Bedrohung für das Wohl der Franzosen sei. Dass die Kompetenzen der EU beschnitten gehörten, weil sie die Souveränität der Staaten auflösten, oder dass Macron mit seiner Haltung gegenüber Russland den Konflikt eskalieren lasse.
Nicht einmal das Investigativteam des öffentlichrechtlichen Senders konnte einen echten Skandal in seiner Biografie ausfindig machen. Dass er hinter einem anonymen X-Konto stehe, auf dem er rassistische Inhalte verbreite, bestreitet Bardella. Allerdings bestätigen RN-Mitglieder, dass le Pen nach wie vor allein das Sagen in der Partei habe und Bardella wie ein Schwamm lediglich ihre Positionen aufsauge. Er lese wenig, verfolge spärlich die Nachrichten und habe überhaupt kaum ein eigenes Profil.
Patzer gehören korrigiert
Marine Le Pen widerspricht diesem Bild ihres Zöglings. Er sei sehr direkt und habe durchaus eigene Meinungen. Öffentlich darf er diese allerdings nur äussern, wenn sie der Chefin ins Konzept passen. Die Zustimmung zur Ehe für alle oder eine Teillegalisierung von Cannabis – kein Problem.
Schwieriger wird es, wenn Bardella öffentlich daran zweifelt, dass Vater Le Pen antisemitisch sei – obwohl er mehrfach dafür verurteilt wurde. Bardella bezeichnete seine Aussage kurz danach als «Ungeschicklichkeit». Denn sie war für Marine Le Pen ein Ärgernis, die seit Jahren daran arbeitet, das Image ihrer Partei als eine antisemitische, rassistische und verbal unflätige Truppe loszuwerden.
Für Le Pens vierten Versuch, die Präsidentschaft zu erringen, ist Bardella der ideale Steigbügelhalter. Er erschliesst neue Wählersegmente und verkörpert den Bruch mit der Vergangenheit. Und obwohl er der Partei vorsteht, respektiert er die interne Hackordnung. Bis jetzt meistert er seine Aufgabe mit Bravour.