Corona, Burger King und Kraft Heinz: Jahrzehntelang galt der ehemalige Tennisprofi Jorge Paulo Lemann als Midas der Finanzmärkte, der alles zu Gold machte, was er anfasste. Doch ein Betrugsskandal hat seinen Ruf ramponiert.
«Im Allgemeinen war ich sehr erfolgreich, aber in den letzten Jahren nicht mehr so sehr», sagte der Brasilien-Schweizer Jorge Paulo Lemann im April dieses Jahres an einer Konferenz an der amerikanischen Universität Harvard. Der 85-Jährige sprach erstaunlich offen für jemanden, der in seiner rund 60-jährigen Karriere als Investor fast nie ein Interview gegeben hatte.
Der Grund für die neue Transparenz könnte aber auch sein, dass die Investoren Erklärungen hören wollen. Denn jahrzehntelang galt Lemann als Midas der Finanzmärkte, der alles zu Gold machte, was er anfasste. So baute Lemann etwa den Brauereikonzern Anheuser-Busch InBev in 35 Jahren mit visionärem Gespür und Disziplin von Brasilien aus zum Weltkonzern auf.
Doch jetzt ist sein Ruf angekratzt. Den Grund erklärt Lemann eher beiläufig: «Wir hatten eine Krise in einem unserer Unternehmen, einen Bilanzbetrug. Es war eine der ersten Firmen, die wir gekauft haben.»
Jetzt müsse der Schaden behoben und das Unternehmen wieder auf Erfolgskurs gebracht werden. Es sei, wie wenn man ein Tennismatch verliere, sagte der ehemalige Tennisprofi, der sowohl für die Schweiz als auch für Brasilien im Davis-Cup spielte. «Man überlegt sich, wie man es in den nächsten Spielen besser machen kann.»
Ein Betrugsskandal als sportliche Herausforderung?
Was Lemann so nonchalant wie eine sportliche Herausforderung beschrieb, ist der wohl grösste Bilanzbetrugsskandal in der brasilianischen Wirtschaftsgeschichte.
Im Zentrum steht die Einzelhandelskette Lojas Americanas. Aus ihren Bilanzen verschwanden umgerechnet rund 4 Milliarden Dollar.
Ins Rollen kam der Skandal im Januar 2023. Sergio Rial, der neue CEO, sprach von «Unregelmässigkeiten in der Bilanz» – und trat nach nur neun Tagen im Amt zurück. Kurz darauf ging der Konzern in Konkurs. Seitdem ermitteln Justiz, Bundespolizei, Börsenaufsicht und sogar der Kongress in Brasilia, wer für den Betrug verantwortlich sein könnte. Bis jetzt ohne Ergebnis.
Für Lemann ist der Skandal am Ende seiner Investorenkarriere bitter. Denn bei Lojas Americanas hat Lemann seit vierzig Jahren mit zwei Mitstreitern das Sagen. Es sind Marcel Telles und Carlos Sicupira, ehemalige Juniorpartner bei Lemanns damaliger Investmentbank Garantia in Brasilien. Lojas Americanas war eine der ersten Firmen, die das Trio übernahm, um ihren Wert zu steigern. Das Unternehmen diente den drei Investoren als Vorlage für ihr Geschäftsmodell, das sie zwanzig Jahre später zu mehrfachen Milliardären und den reichsten Menschen Brasiliens machen sollte.
Lemann stieg dadurch auch zum Kreis der vermögendsten Schweizer auf, er ist als Sohn eines Emmentaler Auswanderers in Brasilien geboren und aufgewachsen. Seinen Aufstieg begann er in São Paulo, aber setzte ihn später in der Schweiz fort. Seit einem Vierteljahrhundert lebt Lemann in Rapperswil-Jona am oberen Zürichsee. Noch vor zehn Jahren zählte er zu den drei reichsten Schweizern.
Lemann ist nur noch der achtreichste Schweizer
Doch nun listet die Zeitschrift «Bilanz» Lemann für das vergangene Jahr nur noch auf Platz 8 der reichsten Schweizer. Sein Vermögen hat sich laut «Forbes» seit 2017 von rund 30 auf 16,4 Milliarden Dollar verringert und sich somit fast halbiert.
Der Grund für diesen Vermögensverlust hängt eng mit Lojas Americanas zusammen – aber nicht nur. Denn unter dem Eindruck des Skandals haben Investoren begonnen, alle Investments von Lemann neu zu bewerten. Ihr Urteil fällt kritischer aus als noch vor kurzem.
Bei Lojas Americanas weisen die drei Kontrolleure jede Mitverantwortung an den Betrügereien der Handelskette zurück. Renommierte Experten haben ihnen bestätigt, dass sie wie der gesamte Markt Opfer von Bilanzmanipulationen geworden sind, wie Zohar Goshen, Professor für Corporate Governance an der Columbia University, jetzt im Auftrag des Verwaltungsrats feststellte.
Wirklich überzeugend klingt das allerdings nicht: Denn jahrelang präsentierte sich vor allem Sicupira als aktiver Kontrolleur von Lojas Americanas, der über jedes Detail der Handelskette informiert war.
Dabei klafften die Realität des Einzelhändlers und die Story für die Finanzmärkte immer weit auseinander. Die Läden von Lojas Americanas waren heruntergekommene Billigkaufhäuser, doch das legendäre Investoren-Trio als Hauptaktionäre verlieh der Kette den nötigen Glanz. Finanzinvestoren und Banken vergaben bedenkenlos Kredite und kauften Aktien.
Jetzt fühlen sie sich vom Lemann-Trio über den Tisch gezogen. «Die drei reichsten Männer Brasiliens, Halbgötter des globalen Kapitalismus, werden mit der Hand in der Kasse erwischt», schimpfte André Esteves, Kontrolleur der Investmentbank BTG Pactual. Alles deute darauf hin, dass der Betrug von langer Hand geplant und durchgeführt worden sei.
Alle weisen Schuld von sich
Auch Miguel Gutierrez, Ex-Chef von Lojas Americanas, der sich einer Verhaftung in Brasilien durch Flucht nach Spanien entzog, sieht sich als Opfer: Er sei zum bequemen Sündenbock geworden, der geopfert werde, «um berüchtigte und mächtige Figuren des brasilianischen Kapitalismus zu schützen», schrieb er in einer öffentlichen Stellungnahme. Auch Gutierrez’ Opferrolle klingt nach zwanzig Jahren an der Spitze des Konzerns wenig überzeugend.
Inzwischen haben Lemann, Sicupira und Telles versprochen, umgerechnet rund 2 Milliarden Dollar in eine Kapitalerhöhung zu stecken. Doch der Schaden ist angerichtet. In den Medien und an den Finanzmärkten werden die Skandale von Lemann und seinen Mitstreitern wieder aufgerollt. Dabei häufen sich Ungereimtheiten in den Bilanzen und Wertberichtigungen.
So standen Lemann und Co. im vergangenen Jahr im Mittelpunkt eines der grössten Vergleiche in der Geschichte amerikanischer Sammelklagen. Der US-Nahrungsmittelkonzern Kraft Heinz zahlte wegen falscher Kapitalmarktinformationen 450 Millionen Dollar an seine Aktionäre.
Die Vorgeschichte: Die drei Brasilianer hatten mit ihrer Private-Equity-Firma 3G, die sie für ihre Auslandsinvestitionen in New York betreiben, 2013 den Ketchup-Hersteller Heinz übernommen. Zwei Jahre später fusionierten sie das Unternehmen mit dem Lebensmittelhersteller Kraft. Mit von der Partie war die Beteiligungsgesellschaft Berkshire Hathaway von Warren Buffett.
Die Finanzmärkte feierten den Zusammenschluss. Was konnte schiefgehen, wenn Buffett und Lemann gemeinsam ein Unternehmen auf Vordermann brachten?
Doch sie irrten sich. Im Februar 2019 schockte der Konzern die Kapitalmärkte: Man habe in den Bilanzen eine Abschreibung auf Marken in Höhe von 18 Milliarden Dollar vornehmen müssen. Statt Gewinne seien Verluste in Höhe von 10,3 Milliarden Dollar entstanden. Von den erwarteten Synergieeffekten aus der Fusion von Heinz und Kraft war kaum etwas zu sehen.
Lemann hat die Kraft der Marken überschätzt
Auch sonst erwies sich die Strategie als falsch: Die Traditionsmarken hätten ihren Glanz verloren, erklärte Lemann 2020 an einer öffentlichen Veranstaltung der Miami Herbert Business School. Die Verbraucher liessen die teuren, veralteten Kraft-Heinz-Marken im Regal stehen und bestellten neue Produkte im Internet. Das habe man zu spät erkannt. Man habe zu wenig in neue Produkte und Marketing investiert und sich auf Kostensenkungen konzentriert. Der Traum vom grössten Lebensmittelkonzern der Welt – er ist gescheitert.
Doch Lemanns Ruf als Midas ist seitdem angekratzt: Denn im Prozess konnten die Kläger nachweisen, dass die Synergieversprechen bei der Fusion von Anfang an unhaltbar waren – und das Management das wusste. Kraft Heinz ist heute an der Börse nur noch ein Drittel so viel wert wie bei der Übernahme 2017. Lemann und 3G haben ihre Anteile verkauft. Buffett ist geblieben.
Zwischen Warren Buffett und Lemann, die sich jahrelang als Investoren bewundert hatten und darüber hinaus befreundet waren, dürfte der Heinz-Kraft-Skandal zum Bruch geführt haben: «Abschliessend eine wichtige Warnung», schrieb Buffett im März 2023 in einem Brief an seine Aktionäre: «Sogar der operative Gewinn, den wir schätzen, kann leicht von Managern manipuliert werden. Solche Manipulationen werden von CEO, Direktoren und ihren Assistenten oft als raffiniert angesehen.» Diese Praxis sei abstossend, kritisierte Buffett, ohne Lemann oder 3G namentlich zu erwähnen. «Man braucht kein Talent, um Zahlen zu manipulieren, nur einen ausgeprägten Willen zur Täuschung.»
Auch bei einer anderen Firma von Lemann und Co. kam es im Nachhinein zu Unregelmässigkeiten: So verkaufte das Trio 2014 seine Eisenbahngesellschaft ALL an Cosan, ein Zucker-Ethanol-Logistikkonglomerat. Das Unternehmen ist heute die grösste private Eisenbahngesellschaft Brasiliens. Nach der Übernahme musste Cosan drei Bilanzen korrigieren, weil die Zahlen nicht stimmten.
Dass die Investoren diese Unregelmässigkeiten lange tolerierten, liegt am legendären Ruf Lemanns. Er hatte sich diesen über viele Jahre erarbeitet.
Lemanns Kauf einer Brauerei war keine Bieridee
1989 kaufte der damalige Banker Lemann die Brauerei Brahma. «Vom Banker zum Brauer?», fragten sich seine Kollegen erstaunt. Doch Lemann hatte beobachtet, dass die reichsten Unternehmerclans Lateinamerikas alle durch Bier wohlhabend geworden waren. «Das können nicht alle Genies sein», sagte Lemann und überzeugte damit seine Partner bei Garantia. «Bier in den Tropen scheint ein lukratives Geschäft zu sein.»
Zusammen mit Telles und Sicupira machte er Brahma profitabel und übernahm dann den Marktführer Antarctica. Für die entstandene Ambev-Gruppe war Brasilien zu klein. «Wir wollten unser Know-how weltweit einsetzen», sagt Lemann. Also fusionierte Ambev mit der belgischen Interbrew, damals der grösste Braukonzern Europas.
Das Lemann-Trio besetzte schnell die Führungspositionen mit brasilianischen Managern und kontrollierte den Konzern in Kürze als grösster Einzelaktionär. 2008 übernahm der nun belgisch-brasilianische Konzern mit Anheuser-Busch die Nummer eins in den USA. 2016 kam mit Miller noch die weltweite Nummer zwei dazu.
Doch seither ist Lemanns Brauerei-Erfolgsgeschichte ins Stocken geraten. Die Menschen trinken weniger Bier und vor allem weniger die Massenmarken. Seit der Miller-Übernahme vor acht Jahren hat sich der Börsenwert des Konzerns halbiert. Die Kursverluste von Kraft Heinz und der Brauerei sind ausschlaggebend für Lemanns Abstieg auf der «Forbes»-Reichenliste.
Die gewagte Übernahme von Burger King
Bis heute ist auch Lemanns Übernahme von Burger King in der weltweiten Private-Equity-Branche legendär. Vierzehn CEO in zwanzig Jahren hatten vergeblich versucht, den Burgerbrater wieder auf Kurs zu bringen, als Lemanns 3G die Kette 2010 für 1,6 Milliarden Dollar inklusive Schulden übernahm. Zwei Jahre später verkaufte 3G knapp 30 Prozent für 1,8 Milliarden Dollar an einen Fonds um den Investor Bill Ackman – hatte also den Kaufpreis wieder hereingeholt, besass aber immer noch 71 Prozent der Anteile.
Weitere Anteilsverkäufe spülten über die Jahre 3G einen Gewinn von rund 11 Milliarden Dollar in die Kasse. 3G besitzt aber immer noch 27 Prozent der Fast-Food-Kette. Der Wert von Burger King stieg unter ihrer Führung um 19 Milliarden Dollar. Der Private-Equity-Experte William Cohan sagt: «Das macht die Transaktion zu einer der profitabelsten, die je von einer einzelnen Übernahmefirma durchgeführt wurden.»
Es scheint, dass das Urteil über Lemann davon abhängt, wo man den Schlussstrich zieht – je nach Zeitraum kann man seine Beteiligung genial oder fatal finden.
Entscheidend sei, so Lemann selbst, dass man immer volles Risiko eingehe. Nur wer Risiken eingehe, könne Aussergewöhnliches erreichen – sonst drohe Mittelmass.