Am Luzerner Festival «Le Piano Symphonique» gestaltet Jewgeni Kissin eine Konzertreihe zum 50. Todestag von Dmitri Schostakowitsch. Dessen Musik fasziniert ihn gerade wegen der versteckten politischen Botschaften. Kissin selbst hat mit seiner früheren Heimat gebrochen.
Herr Kissin, 2025 erinnert die Musikwelt an den 50. Todestag von Dmitri Schostakowitsch. Sie eröffnen das Gedenkjahr diese Woche mit einem grossen Schostakowitsch-Projekt am Festival «Le Piano Symphonique» in Luzern. Dort werden Sie viele seiner Schlüsselwerke zusammen mit namhaften Kollegen spielen. Woher rührt Ihre Begeisterung für die Musik gerade dieses Komponisten?
Ich möchte es Liebe nennen. Und Liebe kann man nie ganz ergründen, oder? Wenn die Wissenschaft eines Tages in der Lage ist, das Geheimnis der Liebe zu erklären, glaube ich nicht, dass ich es wissen möchte.
Das heisst, Sie nähern sich dieser Musik über einen sehr persönlichen, emotionalen Zugang. Ich finde das ungewöhnlich, denn in Schostakowitschs Musik gibt es ja auch diese zweite, durchaus rational fassbare Ebene: alle die Anspielungen und Doppelbödigkeiten und die brisanten politischen Botschaften, die er in vielen Stücken versteckt hat.
Vielleicht besitze ich einen besonderen Sinn für diese Metaebene in seiner Musik. Als ich sechzehn war, habe ich in Salzburg Schostakowitschs 1. Klavierkonzert aufgeführt. Eine Kritikerin lobte nachher, ich hätte klar herausgestellt, dass dies ein durch und durch dunkles, tieftrauriges Stück ist – und eben nicht die Clownerie, die manche Pianisten daraus machen. Tatsächlich gibt es da im langsamen Satz eine Passage mit düsteren Akkordschlägen in der linken Hand – wie Glockengeläut. Später habe ich erfahren, dass Schostakowitsch das Stück kurz nach der Sprengung der Christ-Erlöser-Kathedrale in Moskau durch die Kommunisten komponiert hat. Seither assoziiere ich die Stelle damit.
Sie hören und interpretieren seine Musik also als unmittelbare Spiegelung von politischen Ereignissen seiner Zeit?
Ja, wir wissen aus zahlreichen Schilderungen von Vertrauten, etwa von Isaak Glikman, wie intensiv und kritisch er die Entwicklungen in der Sowjetunion reflektiert hat. Tatsache ist, dass Schostakowitsch sehr unter dem Regime gelitten hat, er hat es gehasst. Das ist in seine Musik eingeflossen. Einige Schlüsselmomente, in denen das zum Ausdruck kommt, sind inzwischen ja allgemein bekannt, etwa der inszenierte, falsche Jubel am Schluss der 5. Sinfonie.
Glaubt man den von Solomon Wolkow aufgezeichneten Memoiren, die erst postum im Westen erscheinen konnten, war Schostakowitsch ein heimlicher Dissident, der zwei Leben lebte: ein offizielles, als berühmtester Komponist der UdSSR, und eines im Verborgenen, als mutiger Chronist des dortigen Unrechtssystems. Ist das für Sie ein stimmiges Bild, auch wenn die Authentizität der Memoiren angezweifelt wird?
Natürlich ist dies das richtige Bild. Das wissen wir nicht nur aus Wolkows Buch, sondern eben auch aus vielen anderen Quellen. Ausserdem kursierten entsprechende Erzählungen über Schostakowitsch seinerzeit in Musikerkreisen, natürlich immer unter der Hand. Ich habe das als Teenager noch selbst erlebt. Einmal hat mir der Tonmeister Pjotr Kondraschin nach einer gemeinsamen Aufnahmesitzung einiges davon berichtet. Sein Vater Kirill Kondraschin war ein Vertrauter von Schostakowitsch und hat viele wichtige Uraufführungen dirigiert. Schostakowitsch soll zu ihm gesagt haben: «Alle meine Sinfonien sind Denkmäler für meine Freunde, die von Stalin ermordet wurden.» Man spürt diese kritische Haltung im Übrigen auch unmittelbar in der Musik.
In welchem seiner Klavierwerke wird dieser subversive Geist besonders anschaulich?
Zum Beispiel in der 2. Klaviersonate. Sie kommt auch in einem Roman vor, an dem ich seit einiger Zeit schreibe – Literatur ist eines meiner Hobbys. Meine Hauptfigur, ein Pianist, spielt darin dem Komponisten, der bei mir unter dem Namen «Dementi Shestakovsky» erscheint, dessen 2. Sonate vor. Und zwar ausgerechnet am 1. Mai, der in der Sowjetunion immer besonders pompös begangen wurde. Das zweite Thema im Kopfsatz ist ein Marsch und für mich ganz klar eine Parodie derartiger offizieller Kundgebungen. Während mein Pianist spielt, tritt der Gegensatz zwischen der dramatischen Wahrhaftigkeit des Hauptthemas und der fröhlichen Lüge des Marsches immer deutlicher zutage.
Sie bezeichnen Ihr Schreiben als Hobby. Es ist aber wohl mehr als das: Unter anderem beschäftigen Sie sich auch intensiv mit der jiddischen Sprache und schreiben Gedichte.
Jiddisch bedeutet mir viel. Es ist die Sprache von Generationen meiner Vorfahren. Als Kind habe ich noch oft gehört, wie meine Grosseltern sie gesprochen haben. Und es gibt da auch einen Bezug zu Schostakowitsch: Wie wir wissen, bedeuteten ihm die jüdische Kultur, die jüdische Folklore und insbesondere die jüdische Musik viel, obwohl er kein Jude war. Deshalb schrieb er seinen Liederzyklus «Aus jüdischer Volkspoesie» – zu einer Zeit, als es am wenigsten opportun war, nämlich 1948, zu Beginn der antisemitischen Kampagne in der Sowjetunion. Auch etliche andere Stücke enthalten jüdische Elemente, wie das Finale des 2. Klaviertrios und das 1. Violinkonzert. Das fis-Moll-Präludium und die Fuge aus der Sammlung op. 87 sind eindeutig jüdische Musik. Nicht zu vergessen: die 13. Sinfonie «Babi Jar». Der Text des ersten Satzes ist ein Manifest gegen den Antisemitismus.
Besteht heute die Gefahr, dass Schostakowitschs Musik wegen seiner Überzeugungen und seiner unleugbar antistalinistischen Haltung in Putins schöner neuer Welt zensiert oder gar verboten wird? Es gibt in Russland schon länger Bestrebungen, die Verbrechen Stalins zu relativieren.
Die Gefahr sehe ich nicht. Nachdem Schostakowitsch unter Chruschtschow mehr oder weniger rehabilitiert worden war, stieg er zu einer Art offiziellem Genie der sowjetischen Musik auf. Über die wahre Bedeutung seiner Musik wurde aber auch weiterhin nicht gesprochen. Ähnlich könnte man es in Zukunft handhaben. Was unpassend ist, wird verschwiegen. Wie bei Tschaikowsky. Er wird immer eines der russischen Idole bleiben, aber Tschaikowskys Homosexualität war schon in der Sowjetunion ein Tabu, und sie wird wahrscheinlich auch in Russland wieder zum Tabu werden, jetzt, wo sie all diese Anti-LGBT-Gesetze verabschiedet haben und durchsetzen. Es gibt da eine doppelte Sprache: zwei Arten, über einen Künstler zu sprechen, eine offizielle und eine geheime. Bei Schostakowitsch war das schon immer so, er ist das Musterbeispiel dafür in der Musikgeschichte.
Umgekehrt gab es im Westen nach dem Überfall Russlands auf die Ukraine Bestrebungen, russische Musik aus den Konzertsälen zu verbannen, selbst Schostakowitsch sollte plötzlich für Putins Imperialismus büssen. Ist Ihr Luzerner Projekt auch als Zeichen gegen diesen Unsinn zu verstehen?
Ich spiele und werde auch weiterhin russische Musik spielen. Vor kurzem habe ich bei einem Klavierabend in Warschau Prokofjews 2. Sonate ins Programm genommen. Ein Paar aus der Ukraine kam extra für das Konzert aus Kiew angereist. Die Frau sagte gleich nach dem Schluss der Sonate zu meiner Frau, die im Publikum neben den beiden sass: «Wie kann man solche Musik Putin überlassen?» Genau so empfinde ich es auch: Zu sagen, dass russische Musik nicht gespielt werden solle, bedeutet zu sagen, dass sie Putin gehöre. Was sie nicht tut. Und deshalb halte ich das für absolut lächerlich, gerade im Fall von Schostakowitsch. Putin ist ein Abkömmling und ein Geschöpf ebenjenes Sowjetregimes, das Schostakowitsch hasste.
Anders als Schostakowitsch, für den ein Gang ins Exil nie infrage kam, haben Sie Ihr Geburtsland 1991 nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion verlassen. Sie haben heute einen britischen und einen israelischen Pass . . .
. . . und leider auch immer noch einen russischen.
Sie bedauern das?
Ich wünschte, ich hätte keinen, aber es ist mühsam, ihn loszuwerden. Es kostet Geld, und ich möchte dem russischen Staat jetzt keinen einzigen Cent geben, denn jeder einzelne Cent, den man dem russischen Staat gibt, bedeutet eine Kugel für das ukrainische Volk. Ich hatte den Pass seinerzeit verlängert, weil ich 2017 zu einem ehrenvollen Anlass nach Moskau eingeladen worden war: Am «Tag der Journalisten» gab es spezielle Konzerte zum Gedenken an die Hunderte von russischen Journalisten, die getötet worden sind. Während dieser Konzerte wurden Auszeichnungen für mutigen Journalismus verliehen, der Preis war nach der regimekritischen Journalistin Anna Politkowskaja benannt, die an Putins Geburtstag ermordet worden ist. Die Konzerte wurden von einer ehemaligen Schulkameradin und ihrem inzwischen verstorbenen Ehemann organisiert. Das alles gibt es nicht mehr. Die Familie hat Russland nach Kriegsausbruch verlassen.
Sie selbst haben als einer der ersten und international prominentesten Künstler den russischen Überfall auf die Ukraine noch Ende Februar 2022 verurteilt und den Angriff auf das Territorium eines anderen Staates ein Verbrechen genannt. Haben Sie damit bewusst die Brücken nach Russland abgebrochen?
Es war nicht als offizieller Bruch geplant. Aber das ist mir auch völlig egal. Ich hatte mich schon früher gegen Putin ausgesprochen, schon vor zehn Jahren, nach den sogenannten Wahlen von 2012. Jüngst wurde ich in Russland zum «ausländischen Agenten» erklärt. Ich bin wahrscheinlich der einzige «ausländische Agent», der das Land bereits mehr als dreissig Jahre vor dieser zweifelhaften Ernennung verlassen hat.
Damit sind Sie nun selbst ein prominenter Dissident geworden.
Ich weiss nicht, ein Dissident ist jemand, der zu dem jeweiligen Land gehört. Ich fühle mich Russland nicht zugehörig, obwohl ich immer noch irgendwo einen russischen Pass habe.
Aber Sie geben womöglich vielen Menschen in Russland eine Stimme, die sich aus Angst um ihre Existenz nicht offen gegen Putins Krieg aussprechen können oder wollen.
Ich spreche als Individuum. Und ausserdem bin ich Jude. Russland war schon immer ein Feind meines Volkes. Mein Volk war immer die am meisten diskriminierte und gehasste Minderheit in Russland. Deshalb hatte ich nie das Gefühl, zu Russland zu gehören, selbst als ich dort lebte. Deshalb hat unsere Familie, wie viele Millionen andere russische Juden, dieses Land bei der ersten Gelegenheit verlassen. Und deshalb fühle ich jetzt eine starke Solidarität mit dem ukrainischen Volk, das zum Hauptopfer der russischen Fremdenfeindlichkeit und des russischen Imperialismus geworden ist.
Ausnahmebegabung
wdh. Jewgeni Kissin, 1971 in Moskau geboren, begann kurz nach seinem zweiten Geburtstag mit dem Klavierspiel. Ab seinem sechsten Lebensjahr erhielt er Unterricht am Moskauer Gnessin-Institut bei Anna Kantor, die seine einzige Lehrerin blieb. Konzertdebüts Anfang der 1980er Jahre, unter anderem mit den Klavierkonzerten von Chopin, trugen ihm den Ruf eines Wunderkindes ein. Der internationale Durchbruch gelang ihm 1988 beim Silvesterkonzert der Berliner Philharmoniker, als er unter der Leitung von Herbert von Karajan das b-Moll-Konzert von Tschaikowsky spielte. 1991 verliess Kissin die untergehende Sowjetunion. Er lebt heute unter anderem in Prag. Im Rahmen des Festivals «Le Piano Symphonique» in Luzern führt er gemeinsam mit Gidon Kremer, Gautier Capuçon und weiteren bekannten Musikern zentrale Werke der Kammermusik von Schostakowitsch auf.