Bei der Präsidentschaftswahl in Algerien hat der Amtsinhaber Abdelmadjid Tebboune einen Erdrutschsieg erzielt. Vielen jungen Leuten ist das egal, sie träumen von einem Leben woanders. Ein Besuch in dem verschlossenen Land zeigt aber: Es gibt auch Hoffnung.
Fahim kippt ein Fläschchen Heineken weg und zündet sich eine Zigarette an. Der Qualm im «Étalon», einem Restaurant mit angeschlossener Bar im Zentrum von Algier, ist so dick, dass man ihn mit einem Kuchenmesser durchschneiden könnte. Ein DJ legt erst afrikanische Pop-Songs auf, dann House-Musik aus den nuller Jahren. Der Laden ist voll, rund um die Tische tanzen die Leute.
«Wir trinken aus, dann gehen wir zum Monument», ruft Fahim, der mit seiner Freundin Amira da ist. Das Monument ist ein gewaltiges Denkmal, das an den algerischen Befreiungskampf gegen die Franzosen erinnert. Wie eine riesige Blumenvase aus Beton thront es über der algerischen Hauptstadt. Doch der 30-Jährige interessiert sich nicht für den Krieg von damals. Vielmehr gibt es in der Nähe des Monuments mehrere Nachtklubs, dort will er weiter feiern. «Bis in die Morgenstunden», sagt Amira.
Eine Wahl wie im Ostblock
Dass am nächsten Tag die Präsidentschaftswahl stattfindet, ist ihm egal. «Es ist doch schon im Vornherein klar, wer gewinnt. Das Ganze ist ein Witz.» Und tatsächlich: Als rund 48 Stunden später die Wahllokale geschlossen und die ersten Stimmen ausgezählt sind, steht bereits ein Sieger fest. Es ist Abdelmadjid Tebboune, der bisherige Präsident. Offenbar hat er 95 Prozent der Stimmen gewonnen.
Algeriens neuer, alter Präsident ist ein 78-jähriger Bürokrat, der von einem breiten Bündnis aus Parteien und staatlichen Organisationen sowie vom mächtigen Militär unterstützt wurde. Zwar traten bei den Wahlen zwei Gegenkandidaten an. Doch eine Chance hatten sie nicht. Die offiziellen Werte der Zustimmung für Tebboune, die sogar jene des ägyptischen Autokraten Abdelfatah al-Sisi übertreffen, erinnern an die Wahlen in längst untergegangenen Ostblockstaaten.
Von Euphorie für Tebboune kann allerdings nicht die Rede sein. Nur gerade 48 Prozent der Algerier erschienen zur Wahl. Vor allem bei den Jungen schien der Urnengang kaum Begeisterung hervorzurufen. Fahim, der den Abend vor der Wahl im «Étalon» verbracht hat, geht sogar noch einen Schritt weiter. «Es geht nicht um die Wahl», sagt er. «Sondern um das ganze Land. Am liebsten wollen die Leute einfach von hier verschwinden.»
Paris bei Tag, Nordafrika bei Nacht
Algerien ist eine Art Terra incognita. Im Gegensatz zu den Nachbarländern Marokko und Tunesien gibt es hier kaum Touristen. Journalisten bekommen nur schwer ein Visum. Wer es trotzdem ins Land schafft, findet einen Ort vor, der einerseits ältlich und matt wirkt, andererseits voller Energie und Leben ist. Tagsüber brennt die Sonne auf die Hauptstadt Algier nieder, in der fast alles exakt so aussieht wie in Frankreich, der ehemaligen Kolonialmacht.
Die schneeweissen Fassaden der Haussmannschen Gebäude sind so prächtig wie in Paris, die Platanen ebenso akkurat geschnitten. Sogar die Verkehrsschilder gleichen denjenigen jenseits des Mittelmeeres. Nachts zeigt sich auf den Strassen dann der nordafrikanische Charakter der Stadt – mit Männern, die vor hell erleuchteten Cafés sitzen und rauchen, mit Familien, die Eis essen und über das Mittelmeer blicken.
Das Meer ist ein Sehnsuchtsort. Vor allem viele junge Algerier wollen das Land verlassen – und tun dies vermehrt auch illegal, mit Booten. Überall in Algier trifft man junge Leute, die vom Leben woanders träumen. Sie sei im falschen Land geboren worden, sagt eine junge Frau, die sich Chazz nennt und in einer Schule in Algier als Wahlhelferin arbeitet. Sie will Modedesignerin werden. «Aber das ist hier kaum möglich. Alles ist verkrustet.»
Die Protestbewegung riss Algerien aus der Lethargie
Er könne das verstehen, sagt Samir Ghezlaoui, ein 38-jähriger Kommunikationsexperte. «Ich wollte auch immer weg.» Er ging einst nach Frankreich zum Studieren. Trotzdem kam er nach ein paar Jahren zurück. Um Politik zu machen, wie er sagt. Ghezlaoui sitzt in einer ältlichen Villa in den Hügeln über Algier. Es ist der Tag vor der Wahl. Er ist nervös, denn er hat die Kampagne des Oppositionskandidaten Youcef Aouchiche mitorganisiert.
«Ich weiss, dass wir kaum eine Chance haben», sagt er. «Aber ich will trotzdem etwas verändern.» Aouchiche ist einer der beiden Politiker, die bei der Wahl gegen den übermächtigen Präsidenten angetreten sind. Er ist 41 Jahre alt und gilt damit als Mann der Jugend. «Im Wahlkampf kam er gut an», sagt Ghezlaoui. «Das macht uns Hoffnung.» Aber diese Hoffnung währt nicht lange. Am Ende holt Aouchiche gerade einmal 2,17 Prozent der Stimmen.
Dabei hatte vor ein paar Jahren noch Aufbruchstimmung in Algerien geherrscht. 2019 waren Hunderttausende gegen die erneute Kandidatur des seit Ewigkeiten regierenden, greisen und gebrechlichen Präsidenten Abdelaziz Bouteflika auf die Strasse gegangen. Der «Hirak», wie die Bewegung sich nannte, riss das Land aus seiner Lethargie, in der es fast zwei Jahrzehnte lang verharrt hatte.
«Le Pouvoir» hat sich wieder einmal durchgesetzt
Doch am Ende ging den Demonstranten die Luft aus. Zwar verhinderten sie Bouteflika. Mit Tebboune folgte aber erneut ein Mann des Establishments. Algeriens Machtelite aus Militärs, Wirtschafts-Clans und Geheimdienstleuten, die bloss «Le Pouvoir» genannt wird und das Land seit der Unabhängigkeit 1962 aus dem Hintergrund beherrscht, hatte sich wieder einmal durchgesetzt. In der Folge verstärkte die Regierung die Repression, ging gegen unliebsame Aktivisten und Journalisten vor.
«Ich glaube trotzdem nicht, dass der ‹Hirak› gescheitert ist», sagt Walid Aidoud, der damals ebenfalls auf der Strasse war. Die Bewegung habe das Land verändert. «Sie hat gezeigt, dass man gemeinsam etwas bewegen kann. Revolutionen passieren nicht von einem Tag auf den anderen. Sie brauchen Zeit.» Aidoud führt seit über zehn Jahren die Box 24 – einen der wichtigsten Räume für alternative Kunst in Algier.
Die Künstler hier arbeiten sich auch an der Geschichte des Landes ab, am blutigen Befreiungskampf gegen Frankreich, der offiziell bis heute glorifiziert wird. An der Zeit danach, als Algier als Mekka der Weltrevolution galt und als Hafen für alle möglichen Befreiungsbewegungen. Aber auch am Stillstand und dem «schwarzen Jahrzehnt» in den neunziger Jahren, als das Land in einem grausamen Bürgerkrieg zwischen dem Militär und radikalen Islamisten versank.
«Algier ist meine Heimat»
Der Bürgerkrieg isolierte Algerien. Das Land kapselte sich von der Welt ab, wurde konservativer. «Wir galten plötzlich überall als Terroristen», erinnert sich Aidoud. Seither liegt Mehltau über dem Riesenland. Viele Dinge kamen erst spät in Algerien an, wie etwa das mobile Internet. Den Arabischen Frühling verschlief die traumatisierte Gesellschaft. Erst 2019 schien sie mit einem Mal zu erwachen.
«Ich hätte längst weggehen können», sagt Aidoud, während er durch die Strassen seines Viertels geht. «Aber ich bin geblieben, weil Algier meine Heimat ist. Am Ende sind die Probleme hier immerhin unsere Probleme.» Am Himmel haben sich inzwischen Wolken gebildet, wenig später geht Regen auf die brutalistischen Wohnblöcke nieder, welche die Franzosen den Algeriern hinterlassen haben.
Tatsächlich hat Algerien einige Probleme. So ist die Wirtschaft des Landes bis heute fast vollständig von Öl- und Gasexporten abhängig. Zwar profitiert es seit dem Ukraine-Krieg von den hohen Preisen. Gleichzeitig bleibt es in einer Art lähmendem Staatssozialismus gefangen und leidet unter hoher Jugendarbeitslosigkeit. Wer mit der Bahn quer durch das Land fährt, sieht immer wieder Plattenbauten, die die Regierung aus dem Boden stampft, um gegen die akute Wohnungsnot vorzugehen.
Keine Vision für die Zukunft
Auf den Strassen sind zumeist leicht verbeulte französische Peugeots und Renaults unterwegs, in den meisten Restaurants wird bar bezahlt. Wer ein Taxi bestellt, wartet mitunter ewig, bis ein Wagen auftaucht. Gleichzeitig sind die Leute bis zum Umfallen freundlich und sprechen fast alle Französisch. Das verleiht dem Land eine fast schon melancholische Gemächlichkeit – als befände man sich irgendwo in der südfranzösischen Provinz.
In Algerien gebe es bis heute keine Vision für die Zukunft, sagt der Politologe Abdelhak Makki, der lange in Genf lebte und sich in der Vergangenheit zweimal vergeblich für das Präsidentenamt beworben hat. «Innerhalb der Machtelite toben heftige Grabenkämpfe. Deshalb wird alles immer nur rasch geflickt. Aber es existiert kein Plan.»
Makki lebt in Oran, der zweitgrössten Stadt des Landes, rund vierhundert Kilometer westlich der Hauptstadt. Oran ist rauer als Algier. Man fühlt sich fast nach Spanien versetzt, mit Cafés, die «La Bodega» heissen, zerbröselnden klassizistischen Fassaden und einer Festung hoch oben auf einem Berg. In Oran entstand der Rai, jene Pop-Musik, die Algerien über die finsteren Jahre half. Und am Wochenende kommt jeweils das halbe Land zum Feiern her.
Blockchain und Tech-Kongresse
Oran gilt als die liberalste Stadt Algeriens. Man trifft dort auf Männer, die schon am Nachmittag in blickdichten Kneipen sitzen und Beaufort-Bier trinken, auf Frauen, die mit offenem Haar und in Blumenkleidern durch von Palmen gesäumte Strassen gehen. Und auf Nacer und Hussein, zwei Jungunternehmer, die in einem Café im Viertel Gambetta vor einem Glas Wasser an ihrer Zukunft arbeiten.
Die beiden Mittzwanziger gehören der schnell wachsenden Startup-Szene Algeriens an. Hussein führt unter anderem eine Blockchain-Firma, die längst nach Europa expandiert hat. Nacer organisiert Tech-Kongresse. «Immer mehr junge Leute arbeiten in der Tech-Szene oder als Freiberufler», sagt Hussein. Die Regierung fördere das, indem sie Steuererleichterungen und spezielle Regeln eingeführt habe. Ausgerechnet im sklerotischen Petrostaat Algerien gibt es einen 30-jährigen Startup-Minister.
«Früher ging jeder, der etwas werden wollte, ins Ausland», sagt Nacer, der sich als apolitisch bezeichnet. «Jetzt gibt es Perspektiven. Vieles ist digitales Neuland hier. Man kann auch von hier aus erfolgreich sein.» Für den Pessimismus vieler junger Algerier hat er daher nur begrenzt Verständnis. Er habe es auch aus einfachen Verhältnissen nach oben geschafft, sagt er. «Es gibt hier ein Sprichwort: ‹Du musst den Mond anvisieren. Wenn es schiefgeht, landest du wenigstens auf einem Stern.›»