Die Partei will einen 36-wöchigen Elternurlaub. Manchen Delegierten ist das zu zahm.
Natürlich ging es am Ende dieser geschichtsträchtigen Woche auch an der Delegiertenversammlung der Grünen um einen alten weissen Mann in Washington, doch erst einmal nannten die Tagespräsidentin auf dem Podium die Spielregeln: Zu oft werde die Redezeit vor allem von einem Geschlecht in Anspruch genommen. Deshalb werde im «Genderprotokoll» die Gesprächszeit nach drei Kategorien erfasst: weiblich, männlich, non-binär.
Es dauerte eine Stunde, bis der erste Mann sprach. Simon Gredig, seit Januar der erste Exekutivpolitiker der Grünen in Chur, stand neben vier Frauen auf der Bühne anlässlich einer Diskussion zur Familienzeitinitiative, welche die Grünen in Neuenburg lancierten. Die abtretende Generalsekretärin der Partei, Rahel Estermann, stellte dem Vater zweier Kinder jene Frage zur Vereinbarkeit von Familie und Beruf, die traditionell Frauen zu hören bekamen: Stadtrat zu sein, «das ist ein Vollzeitamt, ein Amt das auch am Abend und am Wochenende stattfindet, wie macht man das?»
Man macht es so, wie es die Grünen für die gesamte Gesellschaft wollen: paritätisch mit der Mutter. Am Mittwochnachmittag habe er immer frei, sagte Gredig, notfalls müssten Sitzungen verschoben werden, das mache seine «wunderbare Assistentin». An bestimmten Tagen konzentriere er sich voll auf seine Arbeit, an anderen sei einfach klar: Morgens um acht muss er die Kinder zur Betreuung bringen, abends abholen.
Väter und Mütter sollen gleich viel Familienzeit nehmen
Eine solche Aufteilung der «Care»-Arbeit soll auch die Initiative für Familienzeit fördern, welche zwei Nationalrätinnen ihren Parteifreunden vorstellten. 36 Wochen lang soll die Familienzeit sein, jeder Elternteil je 18 Wochen nehmen, maximal ein Viertel der Zeit sollen Mütter und Väter gleichzeitig nehmen dürfen. Das gilt natürlich auch für gleichgeschlechtliche Paare.
Einige Delegierte waren mit diesem Modell gar nicht glücklich. Zwei der drei Verantwortlichen der Grünen-Arbeitsgruppe Gendergerechtigkeit kritisierten die Dauer der geplanten Elternzeit als zu kurz. Sie ist für Mütter vier Wochen länger als der existierende, 14-wöchige Mutterschaftsurlaub, den die Elternzeit ersetzen soll. «Es ist eigentlich das, was nach der parlamentarischen Debatte als Gegenvorschlag dastehen müsste», sagte die Zürcher Nationalrätin Katharina Prelicz-Huber.
Die Basler Ständerätin Maya Graf, die Genfer Nationalrätin Delphine Klopfenstein Broggini und die Grünen-Präsidentin Lisa Mazzone riefen zu Pragmatismus auf. Die Schweiz habe 2020 schon über den zweiwöchigen Vaterschaftsurlaub eine «riesige Debatte» gehabt, sagte Mazzone. «Jetzt sprechen wir über 18 Wochen» pro Elternteil.
Die Abstimmung darüber, ob die Grünen die Familienzeitinitiative lancieren sollten, konnte man gespannt erwarten. Denn nötig war eine Zwei-Drittel-Mehrheit, und Enthaltungen zählten als Nein. Das Resultat war dann aber deutlich: 108 Delegierte stimmten für die Initiative, fünf dagegen, acht enthielten sich.
Grüne arbeiten mit GLP, Alliance F und Travail Suisse
Die Initiative wird neben den Grünen getragen von den Grünliberalen, dem Frauendachverband Alliance F und dem Gewerkschaftsdachverband Travail Suisse. «Die SP wird an ihrem nächsten Parteitag im Februar dieses Initiativprojekt auch behandeln», sagte die Baselbieter Nationalrätin Florence Berikofer. Finanziert werden soll die Familienzeit, wie die bisherigen Elternurlaube und auch Militär- und Zivildienste, über die sogenannte Erwerbsersatzordnung, also je zur Hälfte von Arbeitnehmern und -gebern.
Und dann war da ja noch die Weltpolitik. In dieser Woche habe wohl jede und jeder irgendwann um Fassung gerungen, hatte Lisa Mazzone in ihrer Eröffnungsrede gesagt. Sie zählte Donald Trumps Ankündigungen und erste Massnahmen auf: nach mehr Öl bohren, aus dem Pariser Klimaabkommen aussteigen, Millionen Migranten deportieren, die Begnadigung der 1500 verurteilten Straftäter vom Sturm aufs Kapitol am 6. Januar 2021.
Leider sei der Bundesrat nicht besser, sagte Mazzone weiter. SVP-Umweltminister Albert Rösti sei ein Lobbyist für fossile Energien und Atomkraft. FDP-Finanzministerin Karin Keller-Sutter wolle höhere Preise für den ÖV und keine Subventionen mehr für klimafreundliche Sanierungen. «Der No-Future-Bundesrat marschiert durch: Vollgas zurück in die Achtzigerjahre. Auto, Armee, AKW.»
Doch es komme auf die Stimmbevölkerung an, sagte Mazzone, und die habe mit dem Nein zum Autobahnausbau im November ein «Nein des Widerstands» formuliert. «Non, la Suisse n’est pas un Autoland!» Im Gegenteil, die Schweiz sei ein Land der Fussgänger, der Velos, des öffentlichen Verkehrs – ein «Land der Zukunft».
Rösti in einer Reihe mit Trump und Weidel
Doch die Grünen wollten nicht nur Schlimmeres verhindern, sondern auch für eine «offenere, sozialere, ökologischere Schweiz» eintreten, sagte Mazzone weiter. Und wenn die Landesregierung «mit ihrem SVP-FDP-Wunschkonzert weitermacht, werden wir weiter gewinnen»! Im April beginnt die Unterschriftensammlung für die Familienzeitinitiative.
Während Mazzone auf der Bühne ein Foto von sich mit dem deutschen Grünen-Vizekanzler Robert Habeck zeigen liess, zählte sie die politischen Gegner der Partei im In- und Ausland auf: «Kein Trump, kein Musk, keine Weidel, kein Kickl, keine Meloni, kein Rösti – die Liste geht weiter – macht uns Angst.»
So deutlich wie Mazzones Rede war am Ende dieser Delegiertenversammlung, wo die Parität zwischen Frauen und Männern immer wieder betont wurde, auch das «Genderprotokoll»: Fast 80 Prozent der Wortmeldungen waren von Frauen gekommen. Und weil sie überdurchschnittlich lang redeten, blieben für die Männer nur knapp zwölf Prozent Redezeit, für «andere» fünf.