Firmenskandale wie bei VW und Boeing haben eine gemeinsame Ursache: den Mangel an psychologischer Sicherheit.
Wann haben Sie das letzte Mal Ihren Chef kritisiert? Oder einen Fehler im Team zugegeben? Wie oft äussern Sie bei der Arbeit wirklich Ihre Meinung oder bringen verrückte Ideen ein? Wenn Sie das alles regelmässig tun, dann gratuliere ich Ihnen. Sie gehören zu einer Minderheit und arbeiten in einem Team, in dem hohe psychologische Sicherheit herrscht. Leider ist dies eher die Ausnahme als die Regel. Doch was genau verbirgt sich hinter diesem sperrigen Begriff?
Psychologische Sicherheit bedeutet, dass im Team die Gewissheit besteht, dass man seine Meinung, Kritik oder Fehler äussern kann, ohne negative Konsequenzen fürchten zu müssen. Dabei muss eine negative Konsequenz nicht gleich das Ausmass einer Kündigung haben. Oft sind es abschätzige Reaktionen anderer wie ein Augenrollen, ein genervtes Stöhnen oder ein schiefer Blick. Nichts, was das gesunde Selbstvertrauen eines Menschen zerstören würde. Dennoch schweigen die meisten Menschen lieber, als das Risiko einzugehen, etwas zu sagen.
Ohne Vertrauen keine Lernprozesse
Schweigen ist Selbstschutz: Wer keine Idee bringt, kann auch nicht belächelt oder ausgelacht werden. Wer nicht kritisiert, eckt nicht an. Und wer keine Fragen stellt, wird nicht als störend wahrgenommen. In Workshops lasse ich die Teilnehmenden mit geschlossenen Augen eine Situation nachempfinden, in der sie in einer Sitzung schweigen, obwohl sie ein ungutes Gefühl haben und nicht einverstanden sind. Dann sollen diejenigen die Hand heben, die das schon einmal erlebt haben. Die grosse Mehrheit hebt jeweils die Hand.
Doch genau dieses Schweigen können sich Unternehmen heute nicht mehr leisten. Laut der führenden Expertin auf diesem Gebiet, der Harvard-Professorin Amy Edmondson, ist psychologische Sicherheit eine Voraussetzung für Leistung, effektive Zusammenarbeit, Lernen und Innovation. Denn Lernprozesse kommen in Gang, wenn zusammen über Fehler und Risiken gesprochen wird. Innovation entsteht, wenn man sich traut, unkonventionelle Ansichten zu äussern. Und effektive Zusammenarbeit gelingt, wenn alle den Mut haben, Fragen zu stellen und ihre Meinung zu sagen.
Google löste das Rätsel erfolgreicher Teams
Psychologische Sicherheit ist kein Luxus, sondern die Basis für erfolgreiche Zusammenarbeit. Dies hat auch Google erkannt: 2012 startete dort das Projekt «Aristotle», in dem untersucht wurde, was ein Team erfolgreich macht. Die Topmanager waren überzeugt, dass in den besten Teams nur die besten Leute arbeiten. Doch worauf kommt es an? Auf Persönlichkeitsfaktoren, soziale Kompetenzen oder den Intelligenzquotienten? Bestehen die besten Teams ausschliesslich aus extrovertierten Menschen? Spielt ein ähnlicher beruflicher Hintergrund eine Rolle? Egal welche Faktoren die Forscher betrachteten, sie fanden keine Muster. Und wenn Google etwas kann, dann Muster in Daten erkennen. Schliesslich stiessen sie auf das Konzept der psychologischen Sicherheit, und plötzlich passte alles zusammen. Sie kamen zu dem Schluss, dass es weniger um die einzelnen Leute und vielmehr um das vertrauensvolle Klima im Team geht.
Was passiert, wenn die psychologische Sicherheit in einem Unternehmen fehlt, verdeutlichen diverse Skandale: Bei VW schwiegen die Angestellten zur Software für die Manipulation der Abgaswerte. Beim Flugzeughersteller Boeing wurden Mängel bei der Entwicklung, Zertifizierung und Überwachung eines Flugzeugtyps verschwiegen, was schliesslich zum Absturz zweier Flugzeuge führte. Und in einem amerikanischen Krankenhaus wurde einem Patienten der falsche Fuss amputiert, obwohl mehrere Personen im Operationssaal den Fehler bemerkten. Aus Furcht vor der Reaktion des Chefarztes wagten sie jedoch nicht, ihre Beobachtung zu äussern.
Eine offene Bürotür reicht nicht
Viele Führungskräfte sagen mir: «Bei uns ist die psychologische Sicherheit hoch!» Doch laut Studien überschätzen 75 Prozent der Führungskräfte diesen Faktor. Es reicht nicht, zu sagen, dass die Tür des eigenen Büros für die Mitarbeitenden immer offen stehe. Die Hierarchie und das fehlende Sicherheitsgefühl hindern die Mitarbeitenden oft daran, sich bei der Führungskraft zu beschweren, kritische Beobachtungen zu teilen oder unkonventionelle Vorschläge zu machen. Umso entscheidender ist es, dass Führungskräfte Überbringer von negativen Botschaften nicht bestrafen, sondern neugierig nachfragen und demütig eigenes Unwissen und Fehler dem Team eingestehen. Eine der einfachsten Methoden ist es, bei grundsätzlicher Zustimmung «Ja, und» statt «Ja, aber» zu sagen. Dies fördert konstruktive Diskussionen statt Wortgefechte.
In unserer komplexen Welt, in der Innovation für das Wachstum von Unternehmen entscheidend ist, reicht es nicht, motivierte und kluge Menschen einzustellen. Vielmehr braucht es ein Umfeld, in dem sich alle sicher genug fühlen, ihre Ideen, Fragen und Meinungen zu äussern. Schweigen ist eben nicht immer Gold.
Nicole Kopp ist Arbeits- und Organisationspsychologin und Mitgründerin der Beratungsfirma Go-Beyond.
Ein Artikel aus der «NZZ am Sonntag»