Die Mehrheit der aus russischer Gefangenschaft freigekommenen Ukrainer berichtet von schweren Misshandlungen. Zwei Kriegsgefangene erzählen.
Die Genfer Konvention über Kriegsgefangene von 1949 sollte nach den Greueln des Zweiten Weltkriegs das Los der in Feindeshand geratenen Soldaten verbessern. Klare Regeln wurden festgesetzt, auch die Sowjetunion unterschrieb sie, und nach deren Zusammenbruch übernahm Russland sie als Rechtsnachfolgerin. Das Verhalten der russischen Truppen in der Ukraine deutet jedoch darauf hin, dass die Konvention für Moskau eine Fiktion ist.
Zwei ehemalige ukrainische Kriegsgefangene – sie können hier zu ihrem Schutz nur mit ihren Vornamen Serhi und Jana genannt werden – zucken beim Stichwort Genfer Konvention nur mit den Schultern. «Davon haben die in der Ukraine eingesetzten russischen Soldaten noch nie gehört», sagt Serhi, ein untersetzter Enddreissiger, der im vergangenen Jahr bei einem Gefangenenaustausch freigekommen ist und sich nun in Warschau zu einem Treffen bereit erklärt hat.
Der Infanteriesoldat geriet 18. Mai 2022, zwei Tage vor der Kapitulation der letzten Verteidiger des Asowstal-Werks in Mariupol, in russische Kriegsgefangenschaft. Zwar wurde er vom Internationalen Komitee vom Roten Kreuz (IKRK) registriert. Er gehörte damit nicht zu den Hunderten als «Vermisste» in den Listen der Kiewer Behörden aufgeführten möglichen Kriegsgefangenen, die in Russland vermutet werden. Aber vom IKRK besucht wurde Serhi nie. Noch immer gibt es keine unabhängigen Berichte über die Haftbedingungen der Ukrainer in Russland.
Auch Zivilisten in Gefangenschaft
Die genaue Zahl der Kriegsgefangenen kennt weder Kiew noch Moskau. Laut dem ukrainischen Menschenrechts-Ombudsmann Dmitro Lubinez befanden sich Ende 2023 noch rund 3000 Soldaten, Grenzschützer und Polizisten sowie bis zu 28 000 Zivilisten in russischer Gefangenschaft. Moskau wiederum spricht von mindestens 10 000 ukrainischen Soldaten, die sich ergeben hätten und heute Kriegsgefangene seien. Je knapp 3000 Kriegsgefangene sind auf beiden Seiten freigekommen; der bisher grösste Austausch fand Anfang dieses Jahres statt und umfasste fast 500 ukrainische und russische Militärangehörige.
Serhi erzählt fast ohne Gemütsregung von seiner Gefangenschaft. Er war in der ersten Kriegswoche nordwestlich von Mariupol schwer verletzt und in ein Spital im Stadtzentrum gebracht worden. Als dieses unter russischen Beschuss geriet, wurde er ins Spital des Asowstal-Werks verlegt. Dort konzentrierten sich die entscheidenden Kämpfe um Mariupol, bis die Verteidiger im Mai aufgaben. «Wir alle kamen nach Oleniwka bei Donezk in die Filtration. Dort gab es keine medizinische Betreuung», erzählt Serhi. Nur Schwerverletzte seien in ein Spital nach Donezk transportiert worden; den andern hätten die ebenso gefangenen eigenen Sanitäter zu helfen versucht, so sie noch Medikamente hatten.
Am gleichen Tag ins Gefangenenlager Oleniwka kam auch Jana, eine zweifache Mutter Anfang vierzig. Sie hatte als Militärpsychologin in der Nationalgarde gedient und war am Ende auch im Asowstal-Werk. «Keine psychologische Ausbildung, keine Lebenserfahrung kann einen auf die Kriegsgefangenschaft vorbereiten», sagt die zierliche Frau mit dem «Phoenix Mariupol»-Tattoo. Wie Serhi erzählt sie von harten Verhören unter Einsatz von Hunden, Schlägen und Elektroschocks.
Danach sei das Schlimmste die Enge in den Zellen gewesen. Auf zwölf Quadratmetern seien 27 bis 29 Frauen eingesperrt gewesen, ohne Recht auf frische Luft, ohne Innenhof-Spaziergang. Hinzu kam psychologischer Druck: «Die russischen Bewacher behaupteten fortlaufend, Kiew habe kapituliert, die Ukraine existiere nicht mehr», erzählt Jana. Hier in Warschau, in einem Café unweit der Weichsel, wirkt dieser Schrecken fern und zugleich noch immer präsent. Irgendwann sei die erlösende Nachricht gekommen: «Dass die Ukraine weiterkämpft, dass man uns in Kiew nicht vergessen hat und uns befreien will.» Jana erfuhr davon dank männlichen Mitgefangenen, die dies im russischen Radio gehört hatten. «Nachts sangen wir manchmal leise die Nationalhymne», erzählt sie.
Ohne Kontakt zur Aussenwelt
Beide ehemaligen Gefangenen stammen ursprünglich aus Mariupol selbst. Jana hatte dort als Kindergärtnerin gearbeitet, Serhi war Vorarbeiter in einem Metallkombinat gewesen. Zur Nationalgarde stiessen sie je etwa ein Jahr vor der Invasion als Freiwillige, mit dem berühmten «Asow-Bataillon» hatten sie nichts zu tun. Beide hatten während der ganzen Kriegsgefangenschaft keinen Kontakt mit ihren Angehörigen. So blieb Serhi quälend lange im Ungewissen über das Schicksal seiner Familie. Er wusste nicht, ob seine elfjährige Tochter und seine Ehefrau rechtzeitig aus Mariupol hatten fliehen können.
Aber es gab auch berührende Überraschungen: Die wachhabenden Soldaten der separatistischen «Volksarmee von Donezk» hätten ihnen manchmal aus dem eigenen Sold Brot gekauft, erzählt Serhi. Das hatte er nicht erwartet, angesichts des sonstigen brutalen Alltags. Zwei Wochen lang wurde er im Hochsommer 2022 als Leichenbestatter in Mariupol eingesetzt, auch dies in klarem Bruch zu den Genfer Konventionen. Er habe Massengräber ausheben und menschliche Überreste in den Einfamilienhaus-Quartieren in Leichensäcke verpacken müssen. «Es war sehr traurig und hat mich enorm belastet», sagt Serhi.
Nach vier Monaten im Lager Oleniwka wurde er schliesslich nach Russland gefahren – gefesselt und mit verbundenen Augen. Die Rede war von einem Gefangenenaustausch, doch dann kam alles anders. Serhi landete in einem gewöhnlichen Gefängnis in der südrussischen Stadt Kamyschin, zusammen mit weiteren ukrainischen Soldaten und Zivilisten. «Die Verhöre gingen in Russland weiter, alles wurde noch schlimmer, noch brutaler», sagt Serhi. Wenn die Gefangenen nicht befragt wurden, mussten sie die meiste Zeit, überwacht von einer Videokamera, in der Zelle stillsitzen und schweigen.
Schliesslich kam er fast genau zum ersten Jahrestag der russischen Invasion frei. «Wir waren etwa 30, endlich durfte ich meine Frau anrufen», sagt Serhi. Jana, die als eine der ersten ukrainischen Kriegsgefangenen schon nach vier Monaten freigelassen wurde, hat deswegen noch heute Schuldgefühle. «Wieso gerade ich?», fragt sie. Im Mai war sie mit einer ehemaligen Mitgefangenen in der Toskana und damit das erste Mal im Ausland überhaupt. Auch dies hat sie sich ganz klein auf den Arm tätowieren lassen.
Heute lebt sie mit ihren zwei Teenagern an einem neuen ukrainischen Ort, fern der russischen Besatzungszone. Der Krieg hat sie nicht nur aus der Heimat Mariupol vertrieben, sondern auch ihre Familie auseinandergerissen. Janas Ehemann befindet sich noch immer in russischer Kriegsgefangenschaft. Nur so viel gibt sie preis, aber darüber sprechen möchte sie nicht.