Japan altert wie kaum ein anderes Land. Jugendliche und Studierende erklären, weshalb sie davor zurückschrecken, eine Familie zu gründen.
Shibuya ist das Japan, das die Welt kennt: turmhohe Fassaden mit übergrossen, glitzernden Leinwänden, die pausenlos 3-D-animierte Werbung zeigen. Die Bildschirme erhellen die Strassenschluchten, durch die sich Tausende Menschen schlängeln, und beleuchten die berühmte Strassenkreuzung, die in das Vergnügungsviertel führt.
In Shibuya schlägt das Herz Tokios, hierher kommen jeden Abend Abenteurer und Trinker, Touristen und Büroangestellte, die in einem der vielen günstigen Restaurants japanisch essen, sich in den lauten Bars betrinken oder in den wummernden Klubs tanzen gehen. Wer hierherkommt, wird überschwemmt und mitgerissen von der Energie, die diese Partymeile ausstrahlt.
Jugendkult hier, Überalterung da
Das Japan, das die Welt in Shibuya sieht, ist laut, bunt, hedonistisch und vor allem eines: jung. Wer sich inmitten einer gewaltigen Schar von dem gleissenden Licht jenseits der Kreuzung anziehen lässt, dem dürfte es daher nicht so vorkommen, als sei Jugend ein versiegendes Gut im Land der aufgehenden Sonne.
Doch so ein geballtes Zusammentreffen junger Menschen hat in Japan Seltenheitswert: Nur eine Stunde Zugfahrt von der Hauptstadt entfernt schliessen Kindergärten und Schulen, wird der öffentliche Nahverkehr zusammengestrichen und werden Verwaltungsdistrikte zusammengelegt. Japan entvölkert sich.
Im Land herrscht eine Geburtenkrise, die Geburtenrate liegt bei 1,3 Kindern pro Frau, 2,1 Kinder wären notwendig, um die bestehende Population aufrechtzuerhalten. Das Phänomen zurückgehender Geburten ist nicht auf Japan beschränkt, auch im westlichen Teil der demokratischen Welt liegen die Geburtenraten unter der Schwelle des Selbsterhalts. Doch in Ostasien ist der Trend besonders gravierend: In Taiwan liegt die Geburtenrate bei 1,15 Kindern, in Korea sogar bei 0,81 Kindern pro Frau, die niedrigste Zahl weltweit.
Finanzielle Sorgen
Wer die Jugend auf der Strasse in Tokio oder dem Campus einer Universität befragt, bekommt häufig ähnlich lautende Antworten auf die Frage, warum sich diese Generation keine Kinder wünscht. «Eigentlich möchte ich schon Kinder», sagt der 20-jährige Zion Ikesue, der an der Sophia-Universität Politikwissenschaften studiert. «Aber die Erfüllung dieses Wunsches wird völlig von meiner Einkommenssituation abhängen», ergänzt er. «Kinder können sich in Japan nur Besserverdienende leisten und viele Menschen hier müssen vom Mindestlohn leben.»
Die Sophia-Universität, an der Zion Ikesue studiert, wird von Jesuiten geführt und gilt als renommierter, internationaler Ort. Viele Studierende haben einen nichtjapanischen Elternteil, lebten im Ausland und überlegen, ob sie angesichts der Rahmenbedingungen in Japan Kinder bekommen möchten.
Vor allem junge Frauen, die viel in ihre Ausbildung gesteckt haben, wollen nach ihrem Abschluss nichts von der traditionellen Mutterrolle, die in Japan immer noch gilt, wissen: «Ich will weder heiraten noch Kinder kriegen», sagt die 21-jährige Miyu Arishima. «Das ist nicht das Leben, das ich mir vorstelle, vielmehr möchte ich meinen Beruf und meine Karriere priorisieren», sagt sie.
Politikerinnen machen sich Gedanken darüber, wie die japanische Wirtschaft, die viertgrösste der Welt, mit immer weniger Menschen am Laufen gehalten werden könnte. Dabei oszillieren ihre Vorschläge zwischen einem höheren Grad an Automatisierung und besseren Robotern für die Krankenpflege auf der einen und einem neuen Anlauf, mehr Immigranten willkommen zu heissen, auf der anderen Seite.
Doch hadern viele Japaner mit der Idee, ein Einwanderungsland zu werden. Also wird die Erwartung, den Bevölkerungsschwund zu stoppen, letztlich bei der immer kleiner werdenden Zahl arbeitender Erwachsener abgeladen. «Wenn ich Kinder bekomme, was ich eigentlich vorhabe, dann deshalb, weil ich das persönlich möchte, und nicht, um damit eine demografische Aufgabe zu erfüllen», sagt die entrüstete 20-jährige Geschichtsstudentin Karen Nishina.
Karens Unmut zielt auch auf die Massnahmen, die die japanische Regierung in die Wege geleitet hat, um die Geburtenkrise in den Griff zu bekommen. Nicht nur in Japan, auch in Korea und Taiwan versuchen die politisch Verantwortlichen mit Werbekampagnen junge Paare zum Kinderkriegen zu bewegen. Eine Beratungsfirma hat ausgerechnet, dass jedes Kind, das aufgrund solcher Massnahmen in den vergangenen Jahren «extra» gezeugt und geboren wurde, die Steuerzahlenden rund eine Million Dollar gekostet hat.
Krippenplätze? Das Problem liegt woanders
Die Politik verspricht in ihrem Marketing einen Strauss von Massnahmen, um die Last der Kindererziehung zu lindern. Doch laut Experten laufen diese ins Leere: «In Japan ist die Zahl der unverheirateten Menschen, die Kinder haben, extrem niedrig. Und wer nicht heiratet, der hat auch keine Kinder», so Toshihiro Menju, der Direktor des Japanischen Zentrums für internationalen Austausch, der damit die heute noch gültige, altmodisch klingende Moralvorstellung der meisten Japaner zusammenfasst. Da die japanische Regierung aber vor allem den Ausbau der Kindertagesstätten gefördert habe, «hatten die Massnahmen keinen Effekt», resümiert Menju. Das Problem sind nicht die Kita-Plätze, sondern die Moralvorstellungen.
Dass die Politik an den Bedürfnissen der jungen Generation vorbeigeht, ist für Zion, Miyu und Karen keine Überraschung. Denn ihre Anliegen würden in einem Land, das als eine seiner geistigen Quellen den streng hierarchischen Konfuzianismus ausweise, nicht wirklich gehört, sagen sie. Und so entscheiden die Alten, wie ein Japan in der Zukunft auszusehen hat, in dem sie selber jedoch nicht mehr leben müssen. «Ich glaube nicht, dass die Jugend in der japanischen Politik ernst genommen wird», sagt Miyu. Und Zion sekundiert: «Die Politiker leben in einer anderen Welt», was vor allem daran sichtbar werde, dass sie Rentnern lieber höhere Bezüge als jungen Menschen eine Perspektive versprächen.
Die beiden Studierenden Miyu und Zion sind keine Ausnahmen. Die Politikverdrossenheit ist bei den Jugendlichen besonders gross: Nur rund 34 Prozent der 20-Jährigen haben bei der Unterhauswahl im Jahr 2017 ihre Stimme abgegeben. Bei den Wählerinnen ab 60 Jahren lag die Wahlbeteiligung hingegen viel höher, bei 65 Prozent. Dieses Wählerverhalten hat dazu geführt, dass die Liberaldemokratische Partei, die sich vor allem an ältere Menschen in Japan wendet, in den vergangenen Jahrzehnten fast ununterbrochen an der Macht war. Und das, obwohl seit drei Jahrzehnten die Löhne in Japan stagnieren und sich die Menschen immer weniger leisten können.
Neben einer rigiden Familienmoral sind deshalb auch die immensen Kosten, die Eltern für die Erziehung ihrer Kinder aufwenden, ein Grund, keinen Nachwuchs zu bekommen. Teil des konfuzianischen Erbes ist auch ein strenges Schulsystem, das flankiert wird von Nachhilfeinstitutionen und Privatlehrern. Alles Streben läuft auf die Aufnahmeprüfung für die Universität zu.
Nur eine kleine Zahl hochangesehener Einrichtungen garantiert jungen Menschen in Japan einen guten Verdienst. «Im Bewerbungsverfahren wirst du knallhart aussortiert, wenn du nicht auf der richtigen Universität warst», sagt Zion. Kinder werden so zu einem Statussymbol, denn es ist jedem klar: Wer Kinder hat, der kann sie sich leisten. «Vieles läuft über Status in Japan», so Miyu. «Wir messen Glück am Status. Und Kinder werden in diese Glückskalkulation mit einberechnet.»
Wer diesen Status nicht erreicht, der wird in der Folge auch nicht heiraten können. «Teil der traditionellen Familienvorstellung in Japan ist, dass der Mann der Ernährer im Haushalt ist. Männer, deren Aussichten auf Wohlstand überschaubar sind, werden auf dem Heiratsmarkt übergangen», sagt Robert Dujarric, ein Professor für Asienstudien an der Temple-Universität in Tokio. «Und viele Frauen warten unter Umständen viel zu lange auf diesen betuchten Mann und heiraten nie, weil sie niemanden finden konnten, der dieses Ideal verkörpert», meint er weiter. «In deinen Zwanzigern bedeutet Glück, eine gute Universität zu besuchen, Dating-Erfahrung zu sammeln und einen Job bei einem bekannten Unternehmen zu bekommen», sagt Miyu, die Vorstellung ihrer Generation zusammenfassend. «Dann heiratest du, bevor du 30 wirst, und bringst zwei Kinder zur Welt. Das ist das Ideal von Glück, das nicht jeder haben kann, weswegen alle davon träumen.»
Unbeliebte, aber nötige Einwanderung
Der Demograf Toshihiro Menju hat ausgerechnet, dass sich die Zahl der Frauen in der Altersgruppe der 20- bis 30-Jährigen bis zum Jahr 2050 fast halbieren wird. Angesichts dieses Befunds sei der Trend des Bevölkerungsschwunds nicht mehr umkehrbar. Einzig Einwanderung könnte der japanischen Gesellschaft nun helfen, nicht zuletzt werden Pflegekräfte für die alternden Menschen gebraucht. Doch davon wollen viele der Alten nichts wissen. Tatsächlich leben allerdings rund 3,4 Millionen Ausländer in Japan, und die Zahl steigt jedes Jahr weiter an.
Andrerseits denken immer mehr junge Japanerinnen über das Auswandern nach: «Meine Mutter hat mir immer gesagt, ich solle mein eigenes Einkommen verdienen, um nicht von der patriarchalischen Kultur in Japan abhängig zu sein», meint Miyu, die sich auch vorstellen kann, zumindest eine gewisse Zeit lang im Ausland zu leben. Und Zion, der Filmproduzent und Regisseur werden will, träumt von einem Leben in den Vereinigten Staaten. «In Japan geht alles gemächlich seinen Gang, du arbeitest Jahrzehnte in derselben Firma und erreichst vielleicht mit 60 den Erfolg, den du dir wünschst. In Amerika gibt es mehr Möglichkeiten und einen Sinn für Unternehmertum, den es in Japan nicht gibt.» Anders als Miyu möchte Zion Kinder. Diese sollen allerdings in Amerika aufwachsen und nicht in Japan.
Alexander Görlach ist Publizist und unterrichtet als Gastwissenschafter an verschiedenen Universitäten in Asien.