Seit Jahren ermittelt der Internationale Strafgerichtshof im Nahostkonflikt – nun hat die israelische Regierung Hinweise darauf, dass das Gericht noch diese Woche Haftbefehle erlassen wolle. Es wäre ein Entscheid mit politischer Sprengkraft.
Am Freitag brach Netanyahu sein Schweigen: «Unter meiner Führung wird Israel niemals einen Versuch des ICC akzeptieren, unser inhärentes Recht auf Selbstverteidigung zu untergraben», erklärte der israelische Ministerpräsident. Die Drohung, Militärs und Beamte der einzigen Demokratie im Nahen Osten festzusetzen, sei empörend. Es war das erste Mal, dass sich Netanyahu zu den Gerüchten äusserte, der Internationale Strafgerichtshof (ICC) wolle Haftbefehle gegen ihn und andere hochrangige israelische Politiker, Militärs und Beamte wegen des Verdachts auf Verstösse gegen das Völkerrecht im Gaza-Krieg erlassen.
Schon vor zwei Wochen hatten israelische Medien berichtet, dass im Büro des Ministerpräsidenten zu dieser Frage eine dringliche Sitzung stattgefunden habe. Drei Minister hätten mit Rechtsexperten darüber gesprochen, wie allfällige Haftbefehle abgewehrt werden könnten. Offenbar hatte Israel entsprechende Hinweise erhalten, dass das Gericht in Den Haag einen solchen Entscheid in naher Zukunft fällen werde. Am Sonntag schrieb die linke israelische Zeitung «Haaretz», dass ein solcher Schritt noch diese Woche erfolgen könnte.
Woher Israel diese Hinweise bekommen hat und wie glaubwürdig sie sind, ist bislang unklar. Es ist davon auszugehen, dass diverse Staaten ihre Informanten am Gericht postiert haben. Auch die israelischen Nachrichtendienste sind in der Regel gut informiert. Der ICC selbst hat sich bisher nicht zu den Gerüchten geäussert. Auf Anfrage der «New York Times» liess das Büro des ICC-Chefanklägers Karim Khan ausrichten, er reagiere nicht auf Spekulationen in den Medien.
Der ICC ermittelt seit 2021 im Nahostkonflikt
Das Gericht ermittelt schon seit mehreren Jahren im Nahostkonflikt. Zwar ist Israel kein Mitgliedstaat des ICC und anerkennt dessen Zuständigkeit nicht. Die palästinensischen Gebiete hingegen sind seit 2015 Vertragsstaat des Römer Statuts, das die Grundlage des ICC bildet. 2021 wurde trotz scharfer Kritik aus Israel und den USA entschieden, dass das Gericht für das Westjordanland, Ostjerusalem und Gaza Zuständigkeit habe. Im selben Jahr leitete es eine Untersuchung zur «Situation im Staat Palästina» ein, die bis heute andauert.
Nachdem die Terroristen der Hamas am 7. Oktober in Israel in eklatanter Missachtung des Völkerrechts 1200 Menschen getötet und 250 weitere als Geiseln in den Gazastreifen verschleppt hatten, bekräftigte das Gericht erneut seine Zuständigkeit. Bei einem vielbeachteten Auftritt an der Grenze zum Gazastreifen erklärte der Chefankläger Karim Khan Ende Oktober, er werde «unparteiisch die Beweise prüfen und die Rechte der Opfer verteidigen, unabhängig davon, ob sie sich in Israel oder Palästina befinden».
Im Gegensatz zum Internationalen Gerichtshof (IGH), der seinen Sitz ebenfalls in Den Haag hat und über Streitfälle zwischen Staaten entscheidet, kann der ICC einzelne Verantwortungsträger zur Rechenschaft ziehen. Das Gericht ist zuständig für Kriegsverbrechen, Verbrechen gegen die Menschlichkeit sowie Völkermord. Mit der Genozidklage Südafrikas gegen Israel vor dem IGH hätten die Haftbefehle, wenn sie denn ausgesprochen werden, nichts zu tun.
Das Gericht würde primär Israel schaden
In Israel wird offenbar erwartet, dass das Gericht das Land beschuldigen wird, bewusst humanitäre Hilfe zurückgehalten zu haben. Ein anonymer israelischer Beamter sagte gegenüber der Zeitung «Times of Israel», die Anschuldigungen des ICC würden sich primär darauf fokussieren, dass Israel absichtlich Palästinenser im Gazastreifen verhungern lasse. Israel bestreitet, dass es Hilfslieferungen absichtlich blockiere.
Rechtsexperten gehen davon aus, dass sich allfällige Haftbefehle sowohl gegen israelische Entscheidungsträger wie auch gegen Anführer der Hamas richten würden. Das Gericht kann Haftbefehle selbst nicht durchsetzen. Dafür braucht es seine Mitgliedstaaten. Die führenden Köpfe der Hamas dürfte ein Haftbefehl kaum stören – sie sind ohnehin in weiten Teilen der Welt geächtet. Zudem sind Katar und die Türkei, wo sich die Hamas-Führung zumeist aufhält, keine Vertragsstaaten und deshalb nicht verpflichtet, nach Den Haag auszuliefern.
Israel würde seine Politiker und Militärs ebenfalls nicht ausliefern. Doch Netanyahu könnte kaum mehr Auslandreisen unternehmen, weil mit Ausnahme der USA die meisten westlichen Verbündeten Mitglieder des ICC sind. Israels Unterstützer gerieten in eine delikate Lage, während sich seine Gegner in ihrer Kritik am jüdischen Staat bestätigt sähen. So würde das Vorgehen des Gerichts in erster Linie Israel schaden. Dem ICC-Chefankläger dürfte sehr bewusst sein, dass er mit der Ausstellung von Haftbefehlen ein politisches Erdbeben auslösen würde.
Israel will den Entscheid noch abwenden
Laut israelischen Medienberichten versucht die Regierung händeringend, einen Entscheid des Gerichts auf diplomatischem Weg zu verhindern. Laut der Nachrichtenseite Walla telefoniert Netanyahu permanent mit Washington, um einen Haftbefehl abzuwenden. Auch Deutschland und Grossbritannien soll er um Unterstützung gebeten haben. Derweil hob die israelische Armee am Samstag an einer Pressekonferenz ihre humanitären Bemühungen im Gazastreifen hervor. Tatsächlich haben in den letzten Wochen deutlich mehr Lastwagen mit Hilfsgütern das Gebiet erreicht.
Der israelische Aussenminister Israel Katz forderte das Gericht am Sonntag auf, von Haftbefehlen abzusehen. «Nichts ist verkehrter als der Versuch, Israel daran zu hindern, sich gegen einen mörderischen Feind zu verteidigen.» Sein Land halte sich an alle Gesetze des Krieges. Katz wies zudem die diplomatischen Vertretungen Israels im Ausland an, sich auf eine Welle von antisemitischen Vorfällen vorzubereiten, falls der ICC Haftbefehle verhänge. Netanyahu liess seinerseits verlauten, dass das Gericht Israel nicht davon abhalten würde, seinen «gerechten Krieg gegen genozidale Terroristen» fortzuführen.