Erik Andersson musste die Eishockeykarriere wegen Gehirnerschütterungen beenden. Heute will der Schwede betroffenen Spielern helfen.
Erik Andersson fühlt sich seit Wochen antriebslos. An manchen Tagen schafft er es kaum aus dem Bett. Ständig plagen ihn Kopfschmerzen. Manchmal ist ihm speiübel. Andersson fragt sich, wann diese Symptome verschwinden würden. Er hätte sich lieber das Bein gebrochen, sagt er: «Dann hätte ich gewusst, dass die Verletzung in einigen Wochen verheilt. Doch ich hing ständig in der Schwebe.» Diese «schlimmste Zeit meines Lebens», wie er sie heute nennt, hat der Schwede 2018 erlebt. Er war damals 36 Jahre alt.
Andersson kennt die Ursache der Beschwerden. Er sagt: «Ich habe einige Gehirnerschütterungen erlitten.» Er ist während 17 Jahren Eishockeyprofi, spielt in den schwedischen Ligen, unter anderem bei den Malmö Redhawks. Doch nach jeder Hirnerschütterung dauert es länger, bis er wieder Sport treiben kann. 2018 spürt er, dass die Profikarriere vorbei ist, zumindest jene als Spieler.
Parallel zur Sportkarriere hat Andersson Physik, Ingenieurwissenschaften und Mathematik studiert, dieser Abschluss hilft ihm beim Berufseinstieg. Was im Job von seiner einstigen Leidenschaft geblieben ist: Kälte.
Während des Spiels steigt die Temperatur des Kopfs auf bis zu 39 Grad
Mittlerweile ist Andersson 42 Jahre alt und der CEO der schwedischen Firma Polar Cool. Mit diesem Unternehmen will er Sportlerinnen und Sportler unterstützen, die wie er Gehirnerschütterungen erlitten haben. Polar Cool hat sich Gedanken darüber gemacht, wie Kopfverletzungen unmittelbar nach dem Unfall behandelt werden sollten. Dabei bediente es sich eines Allzweckmittels unter Sportlerinnen und Sportlern – der Kälte. Ob Verstauchung, Zusammenprall oder Zerrung, der Eisbeutel ist rasch zur Hand, findet sich in der Tasche jedes Physiotherapeuten. Im Fall von Gehirnerschütterungen reicht das allerdings nicht.
Bei der Entwicklung ihrer Produkte arbeiteten Andersson und Polar Cool mit Forschenden der Universität Lund zusammen. Die Wissenschafter massen die Kopftemperatur von Eishockeyanern während Partien. Diese stieg bis auf 39 Grad. «Die Wissenschafter wiesen ausserdem nach, dass Gehirnerschütterungen bei höherer Körpertemperatur langwieriger verlaufen als sonst», sagt Andersson. Für eine rasche Genesung sei deshalb entscheidend, dass die Temperatur des Gehirns sofort nach einem Schlag gegen den Kopf abgesenkt werde.
Wie wenn man an einem kalten Tag ohne Mütze aus dem Haus geht
Anderssons Unternehmen hat gestützt auf diese Erkenntnisse eine Art Kappe entwickelt, die mit Kühlelementen durchzogen ist. Solche Produkte wurden zuvor in den neurologischen Abteilungen von Spitälern eingesetzt, sie unterstützen beispielsweise die Behandlung von Schlaganfällen und Hirnblutungen. Andersson und seine Kolleginnen und Kollegen übertrugen das Verfahren auf den Sport. Andersson sagt: «Das schwedische Eishockey hat grosse Probleme mit Gehirnerschütterungen. In den letzten 25 Jahren mussten deswegen mindestens hundert Spieler zurücktreten.»
Erlitt Andersson als Spieler eine Gehirnerschütterung, ging er jeweils in die Garderobe und ruhte sich aus. Danach musste er pausieren, bis die Symptome verschwunden waren. Die Polar Cap könne den Ausfall deutlich verkürzen, sagt er. Dazu muss die Kappe unmittelbar nach dem Unfall während 45 bis 60 Minuten getragen werden. «Das fühlt sich an, als würde man an einem kalten Tag ohne Mütze aus dem Haus gehen», sagt Andersson.
Wissenschafterinnen und Wissenschafter der Universität Lund haben während fünf Jahren Eishockeyspieler untersucht, die eine Gehirnerschütterung erlitten hatten. An diesem klinischen Versuch nahmen 19 Mannschaften aus den obersten zwei Ligen Schwedens teil. Während dieser Zeit erlitten 132 Spieler eine Gehirnerschütterung, knapp die Hälfte von ihnen wurde mit der Polar Cap behandelt.
Die im «Journal of Neurotrauma» publizierte Studie kam zu einem deutlichen Schluss. Die Wahrscheinlichkeit, nach einer Gehirnerschütterung mehr als drei Wochen auszufallen, sank bei der Behandlung mit der Polar Cap um 80 Prozent. Nach drei Wochen musste ein Drittel der Spieler ohne Behandlung immer noch pausieren, gegenüber 7 Prozent aus jener Gruppe, deren Gehirn gekühlt worden war.
Die Kappe erspart Betroffenen die Rehabilitation nicht
Seit der Saison 2020/2021 befindet sich an jedem Spiel der höchsten schwedischen Liga eine Polar Cap in der Eishalle. In der Schweiz setzen der HC Davos, der HC Lugano, der HC Ajoie sowie der HC Thurgau aus der Swiss League auf das Produkt. Seit dieser Saison testen Rugbyklubs aus England, Schottland, Wales, Irland, Italien und Südafrika die Polar Cap. Andersson ist zudem in Kontakt mit Vertretern aus dem Handball oder dem Motorsport.
Die Teams setzen die Polar Cap auch ein, weil die Spieler schneller zurück im Wettkampfbetrieb sind – es geht um Geld und sportlichen Erfolg. Andersson ist sich dessen bewusst, er kennt die Mechanik des Profigeschäftes. Er verharmlose die negativen Folgen von Kontaktsportarten nicht, sagt er.
«Aber wir sollten uns überlegen, wie wir die Spieler besser schützen und behandeln können.» Erklärt er Klubs die Wirkung der Polar Cap, so weist er darauf hin, dass diese auf keinen Fall zur Vertuschung von Symptomen verwendet werden dürfe. «Ich vertraue den Klubärzten, dass sie die Spieler genug lange pausieren lassen», sagt er.
Andersson kennt die Grenzen seines Produktes. Es verkürze zwar die Verletzungspause, erspare den betroffenen Sportlerinnen und Sportlern aber nicht die Rehabilitation. Nach einer Gehirnerschütterung braucht es viel Ruhe, am besten in abgedunkelten Räumen, und eine Sportpause.
In vielen Sportarten gibt es von den Verbänden und Ligen vorgeschriebene Rückkehrszenarien, sogenannte Return-to-Play-Protokolle. Das soll Langzeitschäden verhindern. Der Schweizer Eishockeyverband hat dazu mit Fachleuten ein mehrstufiges Modell erarbeitet.
Ob auch Langzeitschäden gelindert werden, ist offen
Solche Langzeitschäden sind vor allem aus der amerikanischen National Football League (NFL) bekannt. Wiederholte Schläge gegen den Kopf führten bei zahlreichen ehemaligen Profis zu Depressionen, Wutausbrüchen, Gedächtnisverlust, Panikattacken und Konzentrationsstörungen. Die Krankheit heisst chronische traumatische Enzephalopathie (CTE) und kann nur postum diagnostiziert werden. Sie wurde vor hundert Jahren erstmals bei Boxern beschrieben, mittlerweile sind auch Fälle aus dem Rugby und dem Eishockey bekannt.
Ob die Polar Cap langfristige Schäden verhindern kann, weiss Andersson nicht. Vorerst sei nur die kurzfristige Wirkung erforscht, Langzeitstudien seien geplant. «Ich habe keine Sorge, dass Spieler wegen der Polar Cap zu schnell in den Wettkampf zurückkehren und langfristige Schäden riskieren.»
Immerhin bestehe durch den Einsatz der Polar Cap die Möglichkeit, langwierige Symptome zu lindern. Andersson sagt: «Bei mir gingen die Beschwerden einfach nicht weg. Das war brutal. Was ich erlebt habe, wünsche ich niemandem.»