Mit dem Schriftzug im Schweizer Pavillon an der Weltausstellung von 1992 in Sevilla ist Vautier berühmt geworden. Die Schriftbilder waren ein Markenzeichen des Künstlers, der daneben ein enorm vielseitiges Werk geschaffen hat.
Es gibt Künstler, die sich permanent neues Terrain erobern. Die Stationen, die sie in ihrem Werk durchlaufen, lassen sie zurück wie Häuser, in denen sie einmal gewohnt haben und ausgezogen sind. Ein anderer Typus von Künstlern schafft sich eine Welt, in der er sich bewegen kann wie in einem persönlichen Universum. Diese Künstler bleiben konstant an der Arbeit an ihrer Welt, die sie modifizieren und ändern, aber nie verlassen. Sie ist eine Art Schutzraum, der immer mehr in die Breite geht und am Ende so etwas wie ein Archiv des Lebens darstellt.
Es ist nicht schwer zu erkennen, zu welchem Künstlertypus Ben Vautier gehört. Bis zuletzt war er daran, seine Kunst auszuweiten und alle Dinge des Lebens darin unterzubringen. Es gab eigentlich nichts, das im enzyklopädischen Panoptikum von Vautier keinen Platz hatte: Bilder, Skulpturen, Filme, Fotos, Kitsch, Objekte des Alltags, Aktionen, die Kunst seiner Freunde, der Strand von Nizza, die Philosophie und vor allem er selbst. Es ist uferlos, die Dinge seines Werks aufzuzählen. Vautier sorgte allerdings dafür, dass sein Universum nicht chaotisch ist. Er archivierte es, organisierte es in Ober- und Unterthemen ein und gab zu allem ein gültiges Statement.
Anfänge im Schreibwarenhandel
Angefangen hatte alles mit einer Papeterie in Nizza. Vautiers Mutter hatte 1958 das Geschäft für ihren Sohn gekauft, wohl in der Erwartung, dass er selbständig würde. Der Sohn fand Gefallen daran. Nach einer Jugend, die von der Trennung der Eltern und wechselnden Wohnorten in ganz Europa geprägt war, wurde der Laden für Vautier zum Flucht- und Ausgangspunkt seiner künstlerischen Aktivitäten. Schreibwaren hat er nicht lange verkauft. Er versuchte es in der Folge mit gebrauchten Schallplatten und präsentierte auch Kunstwerke, eigene und solche von Freunden. «Le magasin», wie die Papeterie nun hiess, wurde zum Atelier und Experimentierfeld für neue Kunstformen.
Bis heute ist der Laden und alles, was damit zusammenhing, das Herzstück und Modell für Vautiers Kunst. Da er inzwischen museal geworden ist (das Centre Pompidou erwarb ihn als Installation), ist sein Zustand gleichsam eingefroren und darf nicht mehr verändert werden. Vautier wurde ein berühmter Künstler und hat über den Hügeln von Nizza ein Haus gekauft. Dort ging sein Lebens- und Kunstprojekt weiter. Das Haus, längst zum Pilgerort geworden, ist aussen und innen ein mit Tausenden Schrifttafeln und Objekten bedecktes Grosskunstwerk, ein Ort der Akkumulation, in dem jeder Gegenstand ein Stück aus dem Universum des Künstlers repräsentiert.
Die Schrifttafeln sind das wichtigste Element von Vautiers Kunst. Er entwickelte sie zweifellos in Anlehnung an Ladenschilder, die sich appellativ an die Öffentlichkeit wenden. Meist auf dunklen Leinwänden mit weisser Farbe aufgebracht, geben die Worte und Sätze stets lapidare Aussagen oder Statements kund, die Vautiers Gefühle, Zweifel und Selbsteinschätzung enthüllen. Zum Beispiel: «rien», «l’art est inutile», «regardez moi cela suffit», «gratuit prenez mettez Ben».
Im Laufe der Zeit werden diese Textbilder immer komplexer und fassen eine ganze Welt der Gedanken, der Einfälle, der Fragen über alles. Über die Kunstkreise hinaus berühmt wurde Vautier mit der Schrifttafel «La Suisse n’existe pas», die er für den Schweizer Pavillon an der Weltausstellung von 1992 in Sevilla geschaffen und die für einigen innenpolitischen Wirbel gesorgt hatte.
Entgrenzter Kunstbegriff
Lettrismus, Fluxus und Aktion spielen in Vautiers Strategien hinein und verbinden sich zu neuen Formen. Marcel Duchamp war sein zentrales Vorbild, mit Yves Klein machte er Aktionen (zum Beispiel den Himmel und den Strand von Nizza unter sich aufteilen). Der Laden wurde in den sechziger Jahren zum Treffpunkt der Kunstszene und zum Schauplatz spontaner Performances und Ausstellungen. Vautier trieb mit seiner immer von der eigenen Person ausgehenden Kunst eine Art Tanz um sein Ego. Die Entgrenzung des Kunstbegriffs durch Fluxus wurde bei ihm zu einem Spiel zwischen allen Gattungen und zum Spiegel einer endlosen Selbstsuche.
Wenn man sie unter dem Aspekt der Akkumulation betrachtet, dann fängt Vautiers Kunst elementar an, um sich universal zu entfalten. Zu Beginn experimentierte er mit Techniken und einfachen Formen zwischen Bildzeichen und Schrift, im späten Werk schuf er vielteilige Installationen mit Objekten sowie eigenen und fremden Kunstwerken.
Readymade, Aktion und Appropriation gehören zu seiner Kunst von Anfang an. Vautier war nicht nur für die Szene in Nizza ein Impulsgeber für avantgardistische Kunstformen. Er wirkte international und trug seine Ideen über das digitale Medium bis in die völlig entgrenzte Kunst unserer Tage hinein.
Vautier produzierte in seiner Kunst eine endlose Dynamik von Einfällen und Dingen, die ihn nicht selten zur Verzweiflung brachte. «Was zählt, ist nicht die Suche nach Neuem / aber / warum dann nach Neuem suchen? / damit ich existiere? / damit ich anders bin? / ja aber warum?» Auch Fragen gehören zum zentralen Antrieb seiner Kunst. Und nicht zuletzt dient sein Horror Vacui dazu, ihm selbst zu verschleiern, dass vielleicht alles sinnlos ist. Schon deshalb darf die Kunst nicht aufhören. Am 5. Juni ist Ben Vautier im Alter von 88 Jahren gestorben.