Am Donnerstag füllte die französische Pop-Ikone Zaho de Sagazan das X-tra. Porträt einer grossen Chansonnière, die gerade die Bühnen Europas erstürmt.
Zaho de Sagazan ist das reinste Energiebündel. Sie singt und tanzt, als wäre es das letzte Mal. Und gerade wenn man meint, dass jetzt wirklich Schluss ist, weil sie in einem Zustand völliger Erschöpfung auf der Bühne liegt, reckt sie den blonden Schopf, grinst und ist plötzlich wieder parat.
«Lâche-toi, Zürich», singt Zaho am Donnerstagabend in den Konzertsaal. Zürich, lass dich fallen. Zaho de Sagazan kocht das Publikum gute zwei Stunden in ihrer Gefühlssuppe. Einmal sitzt sie konzentriert am Klavier und singt traurige Liebeslieder in kristallklarer Stimme, dann wieder bringt sie den Saal unter Strobo-Licht zum Tanzen. Es ist ein manischer Abend – Chanson-Kitsch, Techno, alles dabei. Und tatsächlich, Zürich lässt sich fallen.
Zaho de Sagazan ist Frankreichs neue Ikone. Jung und Alt tanzen gemeinsam mit glühenden Wangen in ausverkauften Konzertsälen. Sie sei «comme un éclair», schreiben die französischen Medien. Letztes Jahr eröffnete sie die Schlussfeier der Olympischen Spiele mit dem Chanson «Sous le ciel de Paris». Und bei den Victoires de la Musique, den französischen Grammys, räumte sie gleich vier Preise ab.
Inzwischen füllt sie Konzerthallen in ganz Europa. Jüngst brachte sie das «Zeit-Magazin» als «Chanson-Prinzessin» auf dem Cover. In der «SZ» hiess es, dass es Europa mit de Sagazan nun endlich gelingen könnte, den blank geschliffenen Pop-Grössen Amerikas mit ihren niemals verrutschenden Kostümen und fehlerfreien bombastischen Choreografien etwas Authentisches entgegenzusetzen.
Chansons mit harten Beats
Zaho Mélusine Le Moniès de Sagazan ist erst 25 Jahre alt. Sie wuchs in Saint-Nazaire, einer Hafenstadt in Westfrankreich, auf. Ihr Elternhaus war wuselig. Der Vater Künstler, die Mutter Lehrerin, dazu drei ältere Geschwister und eine Zwillingsschwester. Zaho de Sagazan erzählt in Interviews von einer freien Kindheit, sie und ihre Geschwister hätten eigene Filme gedreht, die Wände angemalt, ständig waren Freunde im Haus.
Ab 2015 postete Zaho de Sagazan ihre ersten musikalischen Versuche als Videoschnipsel auf Instagram. Sie sitzt am Klavier, singt, kneift die Augen zusammen und haut dazu in die Tasten. Am Anfang ist ihr Gesang mehr ein Schreien. Aber man spürt, dass sie tief in der Musik steckt, ihr Gesicht ist mit Text und Ton verschmolzen. Und je weiter man in der Zeitleiste nach oben scrollt, desto komplexer wird ihre Stimme, desto öfter gelingt es ihr, die Flut, die so dringend aus ihr herauswill, ein wenig zu zähmen.
2022 erschien ihr erster Song. «La déraison» ist in sphärisch verzerrte Klaviertöne gehüllt, darauf singt de Sagazan mit ihrer dunkel-rauen Stimme ein Liebeslied. Es nimmt schon vieles vorweg, wofür ihre Musik heute steht: französische Chansons, vermengt mit Elektro. In späteren Songs wird sie ihre eher melancholischen Texte ab und an mit harten Beats mischen. Das hört sich dann ein bisschen so an, als würde sie dem Chanson-Genre eine bitter benötigte Vitamin-B12-Spritze reinjagen.
Im März 2023 kam das erste Album: «La symphonie des éclairs». Die Texte, die Stimme, die Beats und dann noch dieser Auftritt! Frankreich war schockverliebt. So eine eigenwillige und lebendige Pop-Grösse hatte man lange nicht mehr gesehen. Zaho de Sagazan wirkt befreit vom «regard des autres», von jeglicher Eitelkeit, sie tanzt auf der Bühne, als würde ihr niemand zuschauen. Und das schwappt auf ihr Publikum über.
«Petite tempête»
Als Jugendliche, so erzählt es Zaho de Sagazan, seien gewaltige Gefühlsausbrüche über sie hinweggefegt. Ständig habe sie losgeheult und nicht gewusst, wieso. Man nannte sie «petite tempête», kleiner Sturm. «Ich dachte immer, das sei eine Schwäche», sagt sie auf der Bühne. Dann entdeckte sie die Musik. Und die habe ihr gezeigt: «Sensibel zu sein, bedeutet, lebendig zu sein, und man kann nie lebendig genug sein.»
Seither fliessen Zaho de Sagazans überbordende Gefühle in ihre Songs. Die Texte kreisen um die Wirren der Liebe, ab und an auch um andere grosse Gefühle, wie Traurigkeit und Wut oder die chronische Unzufriedenheit mit dem eigenen Körper. Und natürlich hat Zaho de Sagazan auch den für französische Musiker unumgänglichen Zigaretten-Track im Repertoire: «Aspiration» ist eine Hymne auf die heiss begehrte, gleichzeitig völlig verhasste und natürlich allerletzte Zigarette.
Auf dem Konzert spricht Zaho de Sagazan von ihrer «Hypersensitivität», aber mit einer derartigen Kraft und Entschlossenheit, dass man spürt: Das ist nichts Modisches, nichts Weinerliches, hier hat jemand seine Gefühlskanäle gründlich entstopft und freimütig offengelegt. In manchen Songs hat das eine geradezu transformative Kraft. In «Ô travers», zum Beispiel, singt sie:
Découvrez vos névroses
Découvrez-vous, et l’envers
Et trouvons la cause
C’est en connaissant nos travers
Que vient la métamorphose
Süss und düster
Entdeckt eure Neurosen, eure Abgründe, dann kommt die Metamorphose. Manchmal wird es etwas pathetisch. Aber Sagazans emotional durchtränkte Texte werden immer wieder von den Beats, ihrem Auftritt und vor allem ihrer Stimme gebrochen, die voll ist, in düstere Tiefen hinabsteigt und dann wieder klar und hell ist wie ein Frühlingsmorgen. Sagazans musikalische Vorbilder sind Jacques Brel, Barbara, aber auch die deutsche Band Kraftwerk. Das Scheppernde, Harte, Düstere gefällt ihr genauso wie die süsse Chanson-Duselei.
Das Harte holt sich Zaho de Sagazan auch aus der deutschen Sprache. Deren gründliche, bis zur letzten Silbe getriebene Aussprache fasziniert sie. Und manchmal treibt sie ihre eigene Diktion auf die Spitze, bis ihr Französisch seltsam steif klingt. Im Song «Hab Sex» spricht sie sogar ein paar Zeilen deutsch, weil das «mehr knallt», wie sie einmal sagte.
Der Auftritt in Zürich ist schnörkellos. Zaho de Sagazans Bewegungen wirken nie einstudiert, ihre Outfits nebensächlich, sie strahlt dem Publikum entgegen, wie sie nun einmal gerade ist. Auf der Bühne fällt auch ihre Mimik auf, manchmal pur und simpel, dann wieder verkrampft sie Hände und Gesicht zu Frankenstein-ähnlichen Gesten.
Keine Angst vorm Tanzen
Sagazans enthemmte Bühnenpräsenz mache auch ihren Auftritt bei der Eröffnung der Filmfestspiele in Cannes 2024 legendär. Der Beat setzt ein, de Sagazan steht mitten im Publikum, wippt den Kopf vor und zurück, schaut herausfordernd in die Menge und beginnt David Bowies «Modern Love» zu singen. Irgendwann zieht sie die Schuhe aus und tanzt auf weissen Socken über den roten Teppich.
Sie tanzt in diesem Zaho-Stil, als wäre sie in einem grossen Wohnzimmer, als wären all die Menschen mit Fliege und Abendkleid nicht da, als gäbe es keine Etikette, keine Kameras, als gäbe es nichts zu verlieren. So bewegt sie sich auf die Regisseurin Greta Gerwig zu, die zu diesem Lied 2012 im Film «Frances Ha» durch die Strassen New Yorks gewirbelt war. Gerwig laufen Tränen über die Wangen, die beiden lachen sich an, und am Ende haucht Zaho Gerwig einen Kuss auf die Hand. Für viele Zuschauer stehen diese Szenen für eine schwer ersehnte Unbeschwertheit.
Auch in Zürich will Zaho de Sagazan ihrem Publikum die Angst nehmen. Sie geht ins Publikum, ein Lichtkegel folgt ihr, sie schaut den Leuten in die Augen, macht sich völlig nahbar. Später sagt sie: «Die Leute haben Angst vorm Tanzen.» Und: «Tut so, als würde euch niemand sehen.» Es braucht mehrere Anläufe, aber dann lässt sich Zürich fallen.