Wir lebten in und mit Geschichten, sagt der guatemaltekische Schriftsteller Eduardo Halfon. Von den traumatischen Erfahrungen seiner jüdischen Vorfahren erzählt er in seinen Büchern.
Vor einigen Monaten erhielt ich einen Anruf aus Stockholm, während ich gerade in meiner Wohnung in Wannsee, am Rande Berlins, arbeitete. Ein Mann meldete sich am Telefon. Sein Name sei Daniel Pedersen, sagte er, und nach ein paar Höflichkeiten erklärte er, er sei Schriftsteller und Verleger und ausserdem Vorsitzender der Jury des Berman-Literaturpreises in Schweden.
Mit dem Preis werde ein Autor ausgezeichnet, dessen literarisches Werk den Geist der jüdischen Tradition verkörpere. Dann fügte er hinzu, die Jury habe beschlossen, in diesem Jahr den Preis an mich für meinen Roman «Canción» zu verleihen. Ich schwieg und war im wahrsten Sinne des Wortes fassungslos – das ist, denke ich, unter diesen Umständen eine normale Reaktion. Ich meine, wie oft gewinnt ein jüdischer Schriftsteller aus Guatemala, der in Berlin arbeitet, einen schwedischen Literaturpreis?
Ein jüdischer Schriftsteller wohlgemerkt, der derzeit in Wannsee lebt, an jenem Ort, wo sich im Januar 1942 führende Nazi-Funktionäre zu einer Konferenz trafen, um ihren völkermörderischen Plan zu beschliessen, den sie «Endlösung der Judenfrage» nannten und gemäss dem alle Juden, deren man habhaft werden konnte, vorsätzlich und systematisch ermordet werden sollten.
Heute, einige Monate nachdem ich dort, am Wannsee, diesen fast surrealen Anruf von Daniel Pedersen erhalten habe, fühle ich mich nicht nur immer noch genauso überrascht, geehrt und bin zutiefst dankbar wie damals. Dankbar bin ich auch dafür, dass ich ihm geglaubt und nicht aufgelegt habe.
Über die Lager wollte er nicht reden
Seit seinen Anfängen ehrt dieser schöne Preis die Literatur und die jüdische Tradition. Das ist ein wichtiges Wort, denn die Tradition ist ebenso sehr mit der Literatur wie mit dem Judentum verbunden. Als jüdischer Schriftsteller bin ich nur ein kleines Glied in diesen beiden sehr langen Ketten von Licht und Wundern und Schönheit. Es ist ein Wort, das ohne ein tiefes Verständnis der Geschichte undenkbar ist. Es brauche eine unendliche Menge an Geschichte, schrieb Henry James, um auch nur ein bisschen Tradition zu schaffen. Es ist ein Wort, das mich unweigerlich an Grossväter denken lässt, oder besser gesagt, an meine Grossväter.
Ich denke an meinen polnischen Grossvater, den Vater meiner Mutter, Leon, oder Leib auf Jiddisch, der uns immer erzählte, es sei seine Telefonnummer, und er habe sie dort, auf seinem linken Unterarm, eintätowiert, falls er sie vergessen würde. Als Kinder, die im Guatemala der 1970er Jahre aufwuchsen, wo die Telefonnummern ebenfalls fünfstellig waren, verstanden wir schnell, dass wir ihn nicht weiter fragen sollten.
Er wollte nicht über diese fünf grünlichen Ziffern sprechen, die wie Raupen über seinen linken Unterarm krabbelten (69752), darüber, wie und wo er sie bekommen hatte, über den Tod seiner beiden Schwestern und seines jüngeren Bruders und seiner Eltern in Lodz. Er wollte nicht über die Lager sprechen.
Und so haben wir ihn viele Jahre lang nichts gefragt. Und viele Jahre lang hat er geschwiegen. Bis er sich schliesslich an einem regnerischen Nachmittag Ende der 1990er Jahre im Wohnzimmer auf sein Sofa setzte, ein Glas Whisky einschenkte und anfing, mir seine Geschichte zu erzählen.
Und als ich ihn zum ersten Mal seit fünfzig Jahren über alles reden hörte, was ihm widerfahren war – von seiner Gefangennahme in Lodz im November 1939, als er mit seinen Freunden Domino spielte, bis zu seiner Befreiung aus Sachsenhausen im April 1945 –, wusste ich sofort, dass mein Grossvater mir nicht nur seine Geschichte erzählte, dass er nicht nur über einen polnischen Boxer sprach und das Überleben und die Macht der Sprache – er lud mich ein, an einer viel grösseren Tradition teilzunehmen. Oder anders ausgedrückt: Er gab mir in diesem Moment, in diesem Wohnzimmer, mein Erbe. Seine Geschichte war nun auch meine Geschichte.
Eine Geschichte, die mich schliesslich, viele Jahre später, hierher nach Stockholm bringen sollte.
Ein Sonntag in Guatemala
Aber die Geschichte, die mich tatsächlich hierhergebracht hat – jene über meinen anderen, den sephardischen Grossvater, meinen jüdisch-libanesischen Grossvater, dessen Namensvetter ich bin –, begann ich während einer Reise nach Guatemala zu schreiben.
Es war im Januar 2019. Wir waren gerade für ein paar Wochen zu Besuch auf dem Land und wurden eingeladen, einen Sonntag im Chalet meines Grossvaters am Amatitlán-See zu verbringen. Eine Bootsfahrt machen. Ein paar Cocktails im Whirlpool trinken, der mit kochendem Vulkanwasser gefüllt ist. Ein spätes, langes, langsames Mittagessen einnehmen. Als ich meiner Frau zuhörte, wie sie mir von der Einladung erzählte, wusste ich, dass das, was sie mir wirklich anbot – natürlich zwischen den Zeilen und vielleicht ohne, dass sie es überhaupt wusste –, ein Tag zum Lesen und Schreiben und Arbeiten für mich allein war. Ein ganzer Tag für mich selbst.
Und so begleitete ich in den frühen Morgenstunden sie und meinen zweijährigen Sohn vor die Tür, schloss sie wieder, und als ich mich mit einer ersten Tasse Kaffee auf die Couch setzte, dachte ich, dass das Einzige, was noch ohrenbetäubender war als die plötzliche Stille in der noch kaum beleuchteten Wohnung mein Unbehagen darüber war, einen Sonntag im Leben meines kleinen Sohnes zu verpassen.
Ich bemerkte alsbald einen Stapel Bücher vor mir auf dem kleinen Wohnzimmertisch. Eines davon fiel mir ins Auge. Es war mir gerade von meinem Vater überreicht worden – nicht als Geschenk, sondern eher, um es loszuwerden, als ob er keinen Beweis für diese Jahre, für diese dunkle Zeit in seinem Leben haben wollte.
Ein Freund hatte es meinem Vater geschenkt, wie der handschriftlichen Widmung auf der Titelseite zu entnehmen war: «Für Joe Halfon, mit der Wertschätzung von immer, und damit du auf den Seiten 129 und 130 mehr über die schicksalhaften Tage erfährst, die deine Familie durchgemacht haben muss.»
Vom Metzger entführt
Ich blätterte sofort weiter und erfuhr, dass der Autor des Buches auf den Seiten 129 und 130 die Geschichte der Entführung meines Grossvaters durch die guatemaltekische Guerilla im Januar 1967 erzählte. Im Besonderen erwähnte er einen Guerillakämpfer namens Percy Amílcar Jacobs Fernández. Da Percy in einer örtlichen Metzgerei gearbeitet habe, so versucht der Autor auf Seite 129 zu erklären, hätten ihm seine Kameraden den Spitznamen Canción gegeben – das spanische Wort für Lied.
Und da war es. Dieses Wort. Diese Figur. Diese Geschichte, die jetzt erzählt werden wollte.
Ich griff nach einem blauen Kugelschreiber und einem gelben, zusammengefalteten und bereits fleckigen Blatt Papier, das mein Sohn auf dem Wohnzimmertisch liegengelassen hatte, und begann, schnell, fast mit Eile, einige kurze Sätze zu kritzeln, durchzustreichen und umzuschreiben (mit der Hand, was ich sonst nie tue), bis ich schliesslich zu diesem einen kam:
«Le decían Canción porque había sido carnicero.» – «Sie nannten ihn Canción, weil er früher Metzger war.»
Bis dahin hatte ich bereits in meinen Kindheitserinnerungen nach aussagekräftigen Momenten der Entführung meines Grossvaters gesucht und versucht, darüber zu schreiben. Ich spürte, dass ich allmählich dem Ziel näherkam, nicht nur etwas über das Leben meines Grossvaters und seine jüdisch-libanesische Identität aufzuzeichnen, sondern auch über die jüngste Geschichte meines Landes, über seinen langen und brutalen Bürgerkrieg zu schreiben. Es war dieser eine seltsame Satz, der irgendwie zum Ausdruck brachte, was ich gefühlt hatte, und der mir das Buch enthüllte, das ich nun schreiben sollte.
«Sie nannten ihn Canción, weil er früher Metzger war.»
Etwas anderes wusste ich noch nicht. Ich verstand den Satz überhaupt nicht. Warum sollte ein Metzger Canción heissen? Aber ich mochte ihn sofort. Vielleicht wegen seines Rhythmus. Oder wegen seines Sinns für das Geheimnisvolle. Oder weil er so fesselnd und süsslich klingend und unerwartet war wie eine alte Zigarrenkisten-Gitarre. Oder vielleicht, weil er das tat, was jeder literarische Satz tun sollte: eine Tür öffnen und mit einem halben Lächeln uns einladen, in eine geheime, intime Geschichte einzutreten.
Deshalb bin ich heute hier in Stockholm – wegen dieses Satzes. Oder mehr noch – wegen dieser Geschichte. Oder mehr noch – weil wir Geschichten sind. Woher wir kommen. Wo wir gewesen sind. Wie wir hierhergekommen sind. Durch Geschichten betreten wir die Welt. Durch Geschichten lernen wir, lieben wir, und lernen wir dann zu lieben. Und durch Geschichten erkennen wir, dass wir viel mehr sind als nur wir selbst – dass wir Teil von etwas Grösserem sind. Einer Familie. Einer Gruppe. Einer Gemeinschaft. Einer Nation. Einem Volk. Einer Tradition. Alles, was wir sind, und alles, was wir waren, wird durch die Geschichten zusammengehalten, die uns erzählt wurden und die wir gelesen haben, und vielleicht, wenn wir viel Glück haben, durch die Geschichten, die wir eines Tages schreiben können.
Der Schriftsteller Eduardo Halfon wurde 1971 in Guatemala-Stadt geboren und lebt heute in Berlin. Im Oktober wurde er in Stockholm mit dem Berman Literature Prize 2024 ausgezeichnet. Wir drucken seine Dankesrede ab. – Übersetzt aus dem Englischen von rbl.