In den Koalitionsverhandlungen hat der Sozialdemokrat den Unionsparteien bereits heftig zugesetzt. Die NZZ hat mit Weggefährten und politischen Rivalen des SPD-Mannes gesprochen.
Sie sind überzeugt: Da kommt noch mehr.
Egal, ob Freund oder Feind – in einem Punkt sind sich alle einig: Lars Klingbeil ist ein netter Typ. Wenn ihm etwas zum SPD-Politiker einfalle, dann, dass er freundlich sei, sagt ein Beamter aus dem Kanzleramt. Ein SPD-Fraktionskollege schwärmt wiederum von seinen durchaus charmanten Seiten. Und selbst ein CDU-Spitzenpolitiker muss – wenn auch mit spöttischem Unterton – anerkennen, dass Klingbeil nicht weniger als der Gute-Laune-Bär der Berliner Republik sei.
So gesehen ist Klingbeil eine nicht alltägliche Erscheinung im rauen deutschen Politikbetrieb. Er hat es in die erste Reihe der Macht geschafft, von der Vizekanzlerschaft trennen den Sozialdemokraten jetzt nur noch wenige Millimeter.
Und scheinbar gelang ihm dieser Aufstieg ohne den sonst üblichen Einsatz des Ellbogens, stattdessen mit breitem Lächeln auf den Lippen. Was natürlich nur die halbe Wahrheit ist, wie auch der bereits erwähnte CDU-Spitzenpolitiker weiss: Jeder Bär habe Krallen – auch die knuffigen, schiebt er hinterher.
Ein Stratege mit brillantem Instinkt
Das hat nicht zuletzt seine eigene Partei jüngst zu spüren bekommen: Einen Tag nach der Bundestagswahl, bei der die Sozialdemokraten das schlechteste Ergebnis ihrer Geschichte verzeichneten. Während seine Parteifreunde noch mit der Niederlage haderten, ergriff Klingbeil die Chance: Er mahnte öffentlich einen Generationswechsel an – und griff nach der Fraktionsführung. Wohlwissend, dass derjenige, der die Fraktion führt, auch in der kommenden Regierung sitzen wird.
Nicht wenige Genossen stiess Klingbeils forscher Vorstoss vor den Kopf. Immerhin war er als Co-Parteichef nicht ganz unbeteiligt am desaströsen Abschneiden seiner Partei. Viele hätten den Wechsel als voreilig empfunden – zumal sein Vorgänger Rolf Mützenich grossen Rückhalt genoss, erzählt ein langjähriges Mitglied der SPD-Bundestagsfraktion.
Hinzu kämen parteiinterne Spannungen – etwa die Frage, ob zentrale Ämter immer an denselben, meist niedersächsischen Männerzirkel gehen sollten, dem auch Klingbeil angehört. Die Parteilinke, noch immer stärkster Flügel, werde das auf Dauer nicht hinnehmen, sagt der SPD-Politiker, der anonym bleiben möchte, warnend. Auch die ehemalige Abgeordnete Leni Breymaier war vom Tempo des Machtwechsels irritiert: «Warum muss das jetzt so schnell gehen?», habe sie gedacht.
Letztlich liess man sich aber doch von Klingbeil überrumpeln. Er bewies damit, dass er einen brillanten politischen Instinkt hat – und ein gutes Gefühl für das richtige Timing. Mit dem Griff nach der Fraktionsführung sicherte sich Klingbeil sein politisches Überleben. Für die neue Koalition wird er als Finanzminister gehandelt. Seine Kalkulation: Wenn er in den Verhandlungen glänzt, ist der desaströse Wahlkampf vergessen.
Tatsächlich ist ihm, Stand heute, ein beachtliches Ergebnis gelungen. Sieben Ministerien wird seine Partei besetzen, genauso viele wie die CDU des wohl künftigen Kanzlers Friedrich Merz. Auch inhaltlich spricht der Koalitionsvertrag an vielen Stellen eine erkennbar sozialdemokratische Sprache: So hat Klingbeil den Unionsparteien CDU und CSU ein milliardenschweres Schuldenpaket für die Infrastruktur abgerungen und eine Erhöhung des Mindestlohns durchgesetzt. Rentner wiederum brauchen keine grösseren Einbussen zu befürchten, während Wohlhabende keine substanziellen Entlastungen erwarten können.
Ein CDU-Politiker, der an den Koalitionsverhandlungen beteiligt war, muss deshalb eingestehen, dass Klingbeil zwar kein einfacher Verhandlungspartner gewesen sei – immerhin aber einer, mit dem man zu Ergebnissen kommen könne. Denn bei den grossen Themen wie Migration kenne er die Stimmung an der SPD-Basis besser als andere Führungskräfte seiner Partei; er wisse, wo Zugeständnisse notwendig seien.
Gleichzeitig stehe er unter enormem Druck, besonders durch die SPD-Linke, vor allem aber durch seine Partnerin in der Parteiführung, Saskia Esken, die ideologisch klarer, aber oft kompromissunwilliger auftrete. Seine Fraktion habe er dennoch unter Kontrolle. In den Verhandlungen sei spürbar gewesen, dass seine Impulse bis in die Arbeitsgruppen reichten.
Im Wahlkampf 2021 zeigte Klingbeil seine dunkle Seite
Es ist ein ambivalentes Verhältnis, das die Union zu Klingbeil pflegt. Einerseits hofft sie, dass er ihr die linken Ideologen der Partei vom Leib hält. Andererseits gibt es ein gesundes Misstrauen gegen den immer lächelnden Sozialdemokraten. Und das aus gutem Grund: Die Union hat selbst schon die andere, dunkle Seite Klingbeils zu spüren bekommen.
Als die Christlichdemokraten vor vier Jahren den nordrhein-westfälischen Ministerpräsidenten Armin Laschet als Kanzlerkandidaten nominierten, zeigte Klingbeil als damaliger SPD-Generalsekretär und Wahlkampfmanager seine taktische Schärfe.
In einem Wahlwerbespot stellte die SPD Laschet als Mann mit fragwürdigen Verbindungen dar. Das Video zeigte eine Matrjoschkapuppe, in der nach Friedrich Merz und dem damaligen CDU-Rechtsaussen Hans-Georg Maassen auch der nordrhein-westfälische Christlichdemokrat Nathanael Liminski erschien. Dieser wurde als «erzkatholischer Laschet-Vertrauter» bezeichnet, für den «Sex vor der Ehe ein Tabu» sei – unterlegt mit dramatischer Krimimusik.
Der Spot bezog sich auf einen Auftritt Liminskis in Sandra Maischbergers Talkshow in der ARD aus dem Jahr 2007. Der damals 22-Jährige erklärte darin seine persönliche Entscheidung zur vorehelichen Enthaltsamkeit, ohne diese jedoch anderen vorschreiben zu wollen. Die SPD sah sich bald dem Vorwurf ausgesetzt, einen harmlosen Talkshowauftritt aus dem Zusammenhang gerissen zu haben. Wenige Tage später wurde der Clip zurückgezogen.
Geschadet hat das Klingbeil nicht, im Gegenteil. Der SPD-Kanzlerkandidat Olaf Scholz gewann die Bundestagswahl, und Klingbeil wurde 2021 zum Parteichef gewählt. Gemeinsam mit der Parteilinken Esken führt er seither die Geschäfte. Die Christlichdemokraten klagten ihrerseits über eine «Klingbeilisierung» der SPD – einen Politikstil, mit dem die Sozialdemokraten auch vor schmutziger, rücksichtsloser Taktiererei nicht zurückschreckten.
Strippenzieher in einer zerstrittenen Koalition
Ähnlich virtuos bespielte Klingbeil die politische Klaviatur in den Folgejahren. Davon können die Grünen und die FDP ein schmerzliches Lied singen – jene Parteien, die bis zum vergangenen Dezember gemeinsam mit den Sozialdemokraten die Regierungskoalition trugen.
Da wäre etwa die Affäre um das sogenannte Heizungsgesetz. Wirtschaftsminister Robert Habeck, grüner Hoffnungsträger mit damals noch intakter Popularität, wollte die Novelle des Gebäudeenergiegesetzes zu seinem klimapolitischen Vorzeigeprojekt machen.
Doch dann landete ein interner Reformentwurf auf dem Schreibtisch der «Bild»-Redaktion – und sorgte für eine wochenlange, heftige öffentliche Debatte. Die Grünen witterten zunächst eine FDP-Intrige.
In Wahrheit, so sind sich heute im politischen Berlin viele und nicht zuletzt die Grünen sicher, stammte das brisante Leak aus der SPD. Dort, zwischen Willy-Brandt-Haus und Kanzleramt, sollen der Scholz-Vertraute Wolfgang Schmidt und Klingbeil die Fäden gezogen haben. Es sei ein gezielter Angriff gewesen, um auch die Liberalen öffentlich zu beschädigen, mutmasst ein ehemals führender FDP-Politiker mit nüchternem Abstand heute.
Auch an anderer Stelle soll Klingbeil den Liberalen mitgespielt haben. Als Kanzler Scholz im Dezember Finanzminister Christian Lindner vor die Tür setzte, folgten ihm die übrigen FDP-Minister aus Solidarität. Mit einer Ausnahme: Verkehrsminister Volker Wissing. Der verkündete alsbald seinen Parteiaustritt und behielt den Kabinettsposten.
Wissings Seitenwechsel, davon ist die ehemalige FDP-Führung überzeugt, wurde monatelang akribisch vorbereitet. Es habe konspirative Treffen im Kanzleramt und in vertraulichen Zirkeln gegeben – an denen auch Klingbeil teilgenommen haben soll. So erzählen es übereinstimmend mehrere ehemalige FDP-Fraktionsmitglieder.
Entsprechend bitter schmeckt der Verrat für die Liberalen: Es heisst, die SPD habe vermutlich die internen Strategiepapiere der FDP früher gekannt als mancher ihrer eigenen Abgeordneten. Und Klingbeil? Der bestreitet, was die FDP ihm vorwirft. Auf Anfrage weist sein Büro die Darstellung «entschieden zurück».
Vermittler zwischen den Parteiflügeln und Schröder-Schüler
Klingbeil mag ein Stratege sein. Ein knallharter Ideologe, ein sozialdemokratischer Traditionalist ist er nicht. Aufgewachsen ist er in der Fünfzehntausend-Seelen-Stadt Munster in der Lüneburger Heide – der Vater Berufssoldat, die Mutter Einzelhandelskauffrau. Noch heute lebt er dort, mittlerweile mit seiner Frau und seinem Sohn. Er sei «heimatverbunden» und «musikbesessen», sagt der frühere Juso-Chef Björn Böhning über ihn. Klingbeil spielte jahrelang Gitarre in der Indie-Rockband Sleeping Silence.
Politisiert wurde er am Gymnasium. In einer ARD-Dokumentation erzählte er vor einigen Jahren, er sei «gegen rechts» aktiv gewesen und habe in der Antifa «mitgemischt». Das war früher. Heute zählt man ihn zum konservativen Lager der SPD. Der grosse Cheftheoretiker sei er aber ohnehin nie gewesen, sagt sein früherer Weggefährte Böhning: «Marx oder Lassalle waren ihm nicht so wichtig.»
Was Klingbeil stattdessen auszeichnet: sein Talent, zwischen unterschiedlichen Interessen zu vermitteln und Netzwerke zu knüpfen.
Schon als Juso war er im Mittelstand seiner Heimatstadt gut verankert. Das zahlt sich aus. Seit 2017 hat er seinen Wahlkreis dreimal direkt gewonnen. Bei der letzten Bundestagswahl holte er 42,1 Prozent – mit Abstand die meisten Stimmen. Auch wegen seines Erfolgs in der Heimat geniesse Klingbeil parteiintern Autorität, glaubt Böhning. «Er ist von Listenplätzen und Parteitagen unabhängig.»
Seine «integrativen» Fähigkeiten, wie Böhning es nennt, haben ihm auch innerhalb der SPD Respekt verschafft. Nach Jahren voller Streit über Richtung und Köpfe brachte er Ruhe in die Partei. Selbst die Linkssozialdemokratin Breymaier aus dem Esken-Lager lobt: Dass die SPD kein «zerstrittener Haufen» mehr sei, sei auch Klingbeils Verdienst. «Wir diskutieren unsere Differenzen nunmehr intern und treten nach aussen geschlossen auf.»
Parteiintern hört man allerdings auch anderes: Klingbeil sei ein klassischer Apparatschik – brillant in Machtspielen, aber fachpolitisch blass. Namentlich zitieren lassen will sich damit aber niemand.
Ebenso diskret bleiben die Genossen, wenn es um Klingbeils Russland-Beziehungen geht. Seine politische Karriere begann unter den Fittichen des damaligen Kanzlers Gerhard Schröder, der den Politikstudenten in seinem Wahlkreisbüro in der niedersächsischen Landeshauptstadt Hannover beschäftigte. Dort knüpfte er auch Kontakte zu Heino Wiese, einem SPD-Mann mit exzellenten Moskau-Verbindungen.
Später sass Klingbeil im Kuratorium eines russlandnahen Vereins, gegründet vom früheren Gazprom-Germania-Chef Wladimir Kotenjow. Erst im Dezember 2021, pünktlich zum Parteivorsitz, gab er den Posten auf.
Die zwanzigjährige Freundschaft zu Schröder kappte Klingbeil medienwirksam im Frühjahr 2022 nach Putins Überfall auf die Ukraine. In einem Interview in der «Bild am Sonntag» verurteilte er öffentlich, dass der Gaslobbyist Schröder an seiner Moskau-treuen Linie festhielt. Geschickt inszenierte er sich als Mann mit klaren Prinzipien, der aus moralischer Überzeugung mit seinem einstigen Förderer brach.
Pragmatisch oder opportunistisch? Klingbeil pflegte seine Russland-Kontakte exakt so lange, wie sie seiner Karriere dienlich waren. Böse Zungen behaupten: Mit Schröder verhielt es sich ähnlich.
Angebliche Intrigen gegen Olaf Scholz
Auch eine andere wichtige politische Beziehung hat Klingbeil beendet, als sie seinen Plänen im Weg stand: die zu Olaf Scholz. Nach Recherchen des «Tagesspiegels» soll Klingbeil dem Kanzler mehrfach im Wahlkampf nahegelegt haben, auf eine erneute Kandidatur zu verzichten – offenbar, um den Weg für den populären Verteidigungsminister Boris Pistorius zu ebnen. Scholz soll abgelehnt haben.
Die Berichte schlugen hohe Wellen. Zwar dementierten Klingbeil und Scholz umgehend solche Gespräche. Doch in Parteikreisen bezweifeln viele die Glaubwürdigkeit des Dementis. Manche trauen Klingbeil die Intrige gegen den Kanzler durchaus zu. Andere spekulieren sogar, er selbst könnte die Nachricht lanciert haben, um die Wahlniederlage nicht an sich haften zu lassen und Scholz als Sündenbock zu präsentieren.
Belege für diese Theorie? Gibt es keine sicheren. Fest steht hingegen, dass Klingbeil Medien geschickt zu nutzen weiss, dass er beste Drähte sowohl zum Boulevard als auch zu den grossen Autorenblättern hat. Und fest steht auch: Nach dem Abgang von Scholz und Mützenich hat Klingbeil seine Macht gefestigt. So schnell wird ihm niemand mehr gefährlich werden. Manche vermuten, er plane bereits den nächsten Karriereschritt.
Kanzler Klingbeil?
Vor allem in der Union ist man misstrauisch. Klingbeil wisse genau, welche Kniffe und Hebel er nutzen müsse, um seine Ziele zu erreichen, sagt ein ranghoher CDU-Politiker, der anonym bleiben möchte. Für den SPD-Mann sei die gegenwärtige Koalition nur ein Mittel zum Zweck: Klingbeil wolle selbst Kanzler werden.
Er werde deshalb versuchen, die Koalition mit CDU und CSU als Sprungbrett zu benutzen. In den kommenden Monaten werde man deshalb immer auf der Hut sein – Klingbeil gehe es nicht nur um Regierungsarbeit, sondern darum, die SPD strategisch so zu positionieren, dass sie bei der nächsten Wahl wieder vorne liege. Dass die Union dabei möglichst schwach aussehe, liege in seinem Interesse.
Ob Klingbeil tatsächlich den Weg ins Kanzleramt anstrebt, weiss nur er selbst. Aber seine bisherige Laufbahn vom niedersächsischen Rockgitarristen zum Kanzlermacher lehrt: Unterschätzen darf man ihn nicht. Mal sehen, wer am Ende lächelt.