Die Karriereplattform könnte ein Ort für gesellschaftlich relevante Diskussion werden. Doch Linkedin meidet die Kontroverse. Warum?
Es gibt kaum Langweiligeres als ein Linkedin-Feed zum Monatsbeginn: Da tauchen alte Studienkollegen auf, die sind wahlweise «thrilled» oder «delighted to announce», dass sie eine «exciting new job opportunity with an amazing team» antreten. Darunter kommen Unternehmer, mit «some great news to share with you – again!», und ehemalige Arbeitskollegen, die einem Verein beigetreten sind und dies als «grosse Ehre» empfinden.
Ein Strom aus Selbstpromotion, Werbung und guten Nachrichten, so kennt man Linkedin bis anhin. Doch in den vergangenen Monaten seien die Diskussionen auf der Plattform merklich politischer geworden, sagen vier Linkedin-Expertinnen, mit denen die NZZ für diesen Text gesprochen hat.
Beispiele dafür gibt es viele. So diskutierten Nutzer über den Eklat zwischen Donald Trump und Wolodimir Selenski, über die Bundestagswahlen oder die Rede von J. D. Vance an der Münchner Sicherheitskonferenz. Überraschend dabei war, wie sachlich und informativ die meisten dieser Diskussionen verliefen, im Ton blieben sie zivilisiert – jedenfalls im Vergleich zu den harten Umgangsformen, mit denen sich Nutzer auf anderen Plattformen angehen.
Damit steht Microsoft, der Mutterkonzern von Linkedin, vor der Wahl. Will er die aufkeimenden politischen Diskussionen fördern, um Linkedin in eine gesellschaftlich relevante Plattform zu verwandeln? Oder ist es förderlicher für das Kerngeschäft, wenn Linkedin weiter ein Karrierenetzwerk bleibt – frei von politischer Kontroverse?
Wirtschaft ist politisch, auch auf Linkedin
Einer, der die Politisierung von Linkedin verkörpert, ist Joe Kaeser, ehemaliger Siemens-CEO und heute Aufsichtsratsvorsitzender von Siemens Energy und Daimler Truck. Per Videobotschaft meldet er sich vom Weltwirtschaftsforum in Davos, von der Münchner Sicherheitskonferenz und postet säuberlich kuratierte Slider mit To-dos für Deutschland: Man müsse das «Verwaltungsdickicht bereinigen», Bildungsgerechtigkeit herstellen, die Berufslehre stärken. Das kommt an: 125 000 Menschen folgen Kaeser auf Linkedin.
Doch nicht nur Wirtschaftsführer, die so tönen, als wären sie Politiker, positionieren sich auf Linkedin. Auch Politiker suchen dort neuerdings vermehrt Zuspruch. Im Wahlkampf zur deutschen Bundestagswahl postete der CDU-Chef und Kanzlerkandidat Friedrich Merz seine Videos und Bilder von Instagram auch auf Linkedin und legte damit wöchentlich um bis zu 5000 Follower zu. Inzwischen erreicht er schon fast 200 000 Follower auf Linkedin. Auch Markus Söder, Robert Habeck und Christian Lindner sind auf der Plattform aktiv. Die Politiker zählen zu den Accounts mit den meisten Followern im deutschsprachigen Raum.
Dass Politiker vermehrt auf Linkedin posten, ergibt Sinn: In Deutschland haben 26 Millionen Menschen ein Linkedin-Profil, das ist mehr als die Hälfte aller Erwerbstätigen. In der Schweiz sind es mit 4 Millionen Nutzern fast vier von fünf Erwerbstätigen. Potenziell erreichen Politiker auf Linkedin also einen erheblichen Teil ihrer potenziellen Wählerschaft. Auch wenn Linkedin seine Nutzer in den Einstellungen wählen lässt, wie viele und welche Inhalte von politischen Parteien und Politikern sie in ihrem Feed sehen wollen.
Die derzeitige Weltlage sorgt dafür, dass viel politischer Content auf Linkedin zu lesen ist. Britta Behrens, die Unternehmen dabei berät, wie sie ihre Reichweite auf der Plattform vergrössern können, sagt: «Trump erhebt Zölle, die Ampelkoalition zerbricht an der anhaltenden Rezession, manche reden gar vom Ende der liberalen Weltordnung. Das hat alles Einfluss auf die Wirtschaft und beeinflusst deshalb auch die Kommunikation auf Linkedin.»
Der perfekte digitale Stammtisch, eigentlich
Zwei Gründe sprechen dafür, dass sich Linkedin grundsätzlich gut als politische Diskussionsplattform eignen würde. Erstens sind die meisten Nutzer mit ihren echten Namen angemeldet. Zweitens agieren sie auf Linkedin nie nur als Privatpersonen, sondern immer auch im Namen ihres Arbeitgebers.
Beides habe einen disziplinierenden Effekt auf die Art und Weise, wie die Nutzer Beiträge und Kommentare verfassten, sagt Céline Flores Willers, Gründerin einer Branding-Firma, die ihre Kunden bei der Pflege ihres Linkedin-Profils berät. «Der Ton ist im Vergleich zu anderen Plattformen meist freundlich und konstruktiv, weil auch der derzeitige oder der künftige Boss mitlesen könnte.»
Die Hemmschwelle für Hassrede und Hetze ist damit höher. Damit wäre Linkedin eigentlich die ideale Plattform für politische Debatten. Zumal laut Willers auf Linkedin deutlich mehr Angestellte und Vorgesetzte aller Hierarchieebenen aktiv sind, die auf dem ehemals stärksten politischen Medium X nicht einmal einen Account haben.
Dennoch bezweifeln alle befragten Expertinnen, dass Linkedin der neue digitale Stammtisch wird. Stattdessen rechnen sie damit, dass der politische Inhalt abgesehen von grossen Aufregern wieder abebbt.
Der Empfehlungsalgorithmus mag keine Politik
Linkedin selbst gibt sich bedeckt. Gefragt danach, ob das Unternehmen politische Diskussionen künftig fördern wolle, beantwortet die Medienstelle mit ausweichender PR.
Wirtschaftlich hat es die Plattform nicht nötig, Änderungen vorzunehmen. Linkedin verdient gutes Geld mit Werbung auf der Plattform und den Premium-Abos. Das Kerngeschäft setzt damit einen möglichst harmonischen Umgang auf der Plattform voraus. Ein Umfeld, in dem sich die Nutzer miteinander vernetzen, sich gegenseitig beglückwünschen und zusammenarbeiten wollen. Politische Dispute finden hier keinen Platz.
Ein weiterer Grund sind die tiefen Kosten der Content-Moderation. Gerade einmal 22 deutschsprachige Menschen beschäftigt Linkedin, die entscheiden, welche Beiträge gelöscht oder in ihrer Verbreitung unterbunden werden. Das sind nur ein Drittel so viele wie bei X.
Statt eines menschlichen Moderators, der die sprachlichen Nuancen einordnen kann, entscheidet auf Linkedin mehrheitlich ein Algorithmus, was geschrieben werden darf und was nicht. Daria Dergacheva, die sich für eine Studie mit der Content-Moderation auf Linkedin beschäftigt hat, sagt dazu: Der Algorithmus identifiziere Schlagwörter, die auf einen allzu spaltenden Diskurs hindeuteten. Diese würden gelöscht oder in ihrer Reichweite zurückgebunden, so suggeriert es jedenfalls der Risk Assessment Report von Linkedin. Und weil politische Inhalte schneller als spaltend gelten, werden sie eher gelöscht.
Anders gesagt: Der Linkedin-Algorithmus zeigt Nutzern lieber Belanglosigkeiten aus ihrem persönlichen Netzwerk, statt kontroverse politische Botschaften auszuspielen.
Unpolitisch by Design
Nichts deutet darauf hin, dass Linkedin seine Aversion gegen politische Inhalte hinterfragt. Deshalb werden die politischen Diskussionen auf Linkedin wohl weiterhin nur dann zur grossen Menge der Nutzer durchdringen, wenn sich die Wirtschaftswelt in einer aussergewöhnlichen Lage befindet.
Sobald grosse Aufregerthemen wie Trumps Aussenpolitik, der Erfolg der AfD oder die Aufrüstung Europas aus den Schlagzeilen verschwinden, dürften politische Diskussionen auf Linkedin für die meisten Nutzer wieder verebben. Hinzu kommt, dass das Design der Plattform sich kaum für die Debatte von weniger brisanten Politthemen eignet: Anders als auf Twitter, das die Zeichenzahl auf 280 beschränkte, ist Linkedin die Plattform jener, die ihre Gedanken gerne in langen Ausführungen ausbreiten. Die Lust auf einen unmittelbaren Schlagabtausch, wie er auf X noch oft geführt wird, leidet unter der Langatmigkeit.
Und gerade weil die Posts normalerweise so ausführlich und kuratiert sind, haben viele Linkedin-Meinungsführer die Hoheit über ihr Linkedin-Profil an ein Kommunikationsteam übergeben. Viele dieser CEO und Unternehmer investieren mehrere hunderttausend Euro für den erfolgreichen Linkedin-Auftritt. Dies bestätigt Willers, die ihren Kunden teilweise rät, sich auf Linkedin von professionellen Ghostwritern vertreten zu lassen. Direkte Interaktionen, die einen politischen Schlagabtausch erst interessant machen, kommen in so einem künstlichen Umfeld kaum zustande – zu sorgfältig werden dafür die Worte gewählt.
Wohl auch deswegen setzte sich Linkedin bisher nicht als Plattform der Politiker und Journalisten durch. Sie blieb die Plattform der Angestellten, Manager und CEO. Und gerade weil sie auf Linkedin mit ihrem richtigen Namen und in ihrer beruflichen Funktion unterwegs sind, schrecken die meisten Nutzer davor zurück, sich eindeutig politisch zu verorten. Schliesslich wollen Unternehmer und CEO ihre Kunden nicht verärgern, Angestellte keine künftigen Chefs abschrecken.
Ärger und Reibung haben damit langfristig auf Linkedin keinen Platz. Damit dürfte Linkedin das Portal der Selbstinszenierer bleiben. Das verwundert nicht. Der Mutterkonzern Microsoft hält sich, wenn immer möglich, aus der Politik heraus. Und Linkedin passt damit perfekt in die Reihe der Microsoft-Apps, die sich im Lauf der Zeit kaum verbessern oder gar neu erfinden, weil sie es nicht müssen.