Kein anderer Schweizer spielte während der Pandemie eine wichtigere Rolle als Albert Baehny. Nun tritt der Präsident von Lonza ab. Im Interview sagt er, woran der Deal mit Alain Berset scheiterte und warum Daniel Vasella weit besser ist als sein Ruf.
Herr Baehny, was zeichnet einen guten CEO aus?
Ein guter CEO braucht einen klugen Kopf für das strategische Denken, ein gutes Herz für die Menschen und zwei geschickte Hände für die Umsetzung. Zudem muss ein guter CEO verrückt sein. Von Zeit zu Zeit braucht es mutige Entscheidungen in Unternehmen. Das geht nicht ohne Craziness.
Als Verwaltungsratspräsident von Lonza haben Sie seit 2018 zweimal den CEO ausgewechselt und sind selbst eingesprungen. Was machten diese CEO falsch?
Wir müssen den Fehler zuerst bei uns suchen. Wir haben die Due Diligence, die Sorgfaltsprüfung über die Kandidaten, nicht gut genug gemacht.
Das ist eine Kritik am Verwaltungsrat.
Das ist eine Kritik an Albert Baehny. Die zweite Kritik an Albert Baehny ist, dass er zu optimistisch war. Wir waren überzeugt, dass die beiden Kandidaten alles mitbringen würden, um sich zu einem guten CEO zu entwickeln. Wir haben uns zweimal geirrt. Den beiden Personen gelang es nicht, den Schritt von A nach B zu machen.
Hat ein CEO keine Zeit, um sich zu entwickeln?
Doch, aber er muss bereit sein, an sich zu arbeiten. Viele glauben, sie seien als CEO automatisch erfolgreich, weil sie zuvor erfolgreich waren. Aber das genügt nicht. Man muss sich fragen: Was muss ich anders machen als zuvor? Wie muss ich meine Zeit einteilen? Was muss ich delegieren? Mit wem muss ich kommunizieren? Nur hoffen, dass es gut kommt, ist keine kluge Strategie.
Wie schwierig ist es für einen CEO, unter dem Präsidenten Albert Baehny zu arbeiten?
Fragen Sie Christian Buhl, er ist seit 2015 CEO von Geberit. Er wird sagen, dass man mit Baehny gut zusammenarbeiten kann. Wir streiten über Ideen und die Strategie, aber wir verlassen den Raum mit einer Meinung. Der CEO ist viel näher beim Geschäft. Ein Verwaltungsratspräsident muss darauf vertrauen, dass der CEO die besseren Entscheidungen trifft. Es ist nicht kompliziert, mit mir zu arbeiten. Man muss transparent sein, man muss kommunikativ sein, man muss Ideen haben, und man darf keine Politik machen.
Was verstehen Sie unter Politik?
Eine Kommunikation, die nicht transparent und offen ist. Was ich bei Lonza oder Geberit erfahre, gehört der Organisation, nicht mir. Zu viele Menschen versuchen, wichtige Informationen zurückzuhalten oder gezielt einzusetzen, anstatt sie mit den anderen zu teilen. Das ertrage ich nicht.
Nun holen Sie bei Lonza mit Wolfgang Wienand wieder einen CEO von aussen, den Sie nicht kennen.
Wolfgang Wienand ist schon seit einigen Jahren bei Siegfried erfolgreich als CEO tätig. Er kennt die Industrie und die Funktion. Er weiss, wie man mit den Medien und dem Kapitalmarkt kommuniziert. Dieses Mal hat der Verwaltungsrat seine Hausaufgaben besser gemacht.
Lonza spielte als Hersteller des mRNA-Impfstoffes von Moderna eine zentrale Rolle bei der Bekämpfung der Pandemie. 2021 wollte die ganze Welt die Impfung, nun ist der Markt komplett eingebrochen. Hätten Sie das erwartet?
Nein, unser Businessplan sah anders aus, wir gingen davon aus, dass es die jährlichen Auffrischungsimpfungen länger brauchen wird.
Im Frühling 2020 machten Sie dem Bund ein Angebot, sich finanziell an einer Produktionsstrasse für Impfstoff in Visp zu beteiligen. Wäre die Schweiz so schneller zur Impfung gekommen?
Im April 2020 unterzeichneten wir den Vertrag mit Moderna. Es war klar, dass wir wahrscheinlich die Ersten sein werden, die einen Impfstoff produzieren. Ende April habe ich dem Bundesrat in einem Brief vorgeschlagen, die Schweiz könnte eventuell Kapazitäten reservieren. Hier muss ich frühere Aussagen korrigieren: Es ging darum, Kapazitäten zu reservieren, nicht darum, eine Produktionslinie zu kaufen oder zu besitzen.
Wollten Sie Geld vom Bundesrat?
Darum ging es nicht. Ich wollte meinem Land helfen. Ich war überzeugt, dass der Impfstoff knapp wird, wenn wir erfolgreich sind. Genau das ist dann auch eingetroffen. Leider ist aus unserem Angebot nichts geworden.
Hat Sie das enttäuscht?
Ein wenig schon. Wir hatten eine Pandemie, die Menschen starben, und wir hatten eine Lösung. Aber aus Bern kam keine Reaktion. Im Nachhinein muss ich sagen: Wir haben uns zum Teil missverstanden. Die Kommunikation war nicht gut genug.
Die Impfung schützte nicht vor Ansteckungen. Verfehlte der Impfstoff Ihre Erwartungen?
Nein, das war die richtige Technologie zum richtigen Zeitpunkt. Innerhalb von sechs Monaten produzierten wir einen Impfstoff, der vor schweren Erkrankungen schützte und von der amerikanischen Zulassungsbehörde FDA genehmigt war. Das war ein unglaubliches Abenteuer. Mit Moderna haben wir ein Unternehmen unterstützt, das zwar zehn Jahre Erfahrung in der mRNA-Forschung, aber kein Produkt auf dem Markt hatte. Es lagen nicht einmal die Resultate der klinischen Studien der ersten Phase vor. Das war die Verrücktheit, die es in solchen Situationen braucht.
Was nützt das Lonza heute?
Wir haben bewiesen, dass wir fähig sind, in sechs Monaten einen Laborprozess in einen industriellen Prozess zu skalieren. Der Markt hat dies sehr genau registriert. Kunden kommen mit Anfragen für andere Produkte auf uns zu. Unsere Reputation ist massiv gestiegen.
Sollte die Schweiz eine eigene Impfstoffproduktion haben?
Das ist ein politischer Entscheid, zu dem ich mich nicht äussern will. Grundsätzlich ist die Schweiz sehr gut aufgestellt. Wir haben Roche, Novartis und Lonza. In diesem Dreieck finden Sie alles, was es in einer Pandemie braucht. Diagnostik bei Roche, Medikamente bei Novartis und Impfstoffe bei Lonza. Davon können andere Länder nur träumen.
Aber in der Corona-Pandemie kamen die wichtigen Medikamente nicht aus der Schweiz.
Das stimmt. Dennoch sind wir sehr gut gerüstet. Es wäre unmöglich gewesen für eine einzelne Firma oder ein einzelnes Land, den Impfstoff zu entwickeln. Auch ohne die Zusammenarbeit zwischen Europa und Nordamerika hätte es nicht so schnell funktioniert.
Die USA wollen in einem neuen Gesetz, der Biosecure Act, die Zusammenarbeit mit chinesischen Pharmaunternehmen unterbinden. Was bedeutet dies für Lonza?
Es ist momentan erst ein Vorschlag, kein Gesetz. Es ist noch zu früh, um zu verstehen, welche Auswirkungen die Act haben wird, aber es könnte für Möglichkeiten geben, davon zu profitieren. Es ist uns bewusst, dass es amerikanische Unternehmen mit chinesischen Zulieferern gibt, die nach alternativen Möglichkeiten suchen.
Lonza hat im März eine Biotech-Produktionsanlage von Roche im kalifornischen Vacaville gekauft. Geschah das vor diesem Hintergrund?
Nein. Wir benötigen auch sonst zusätzliche Kapazitäten. Um eine Anlage dieser Grösse zu bauen, dauert es mindestens fünf Jahre. Mit dem Kauf haben wir sofort Zugriff auf über 300 000 Liter Bioreaktorkapazität.
Viele westliche Unternehmen ziehen sich aus China zurück.
Der Trend ist klar: Langfristig muss man in China produzieren, um dort Medikamente zu verkaufen. Sie wollen im Gesundheitsbereich eine führende Rolle einnehmen und nicht vom Westen abhängig sein.
Warum haben Sie sich entschieden, aus der Bioproduktion in China auszusteigen – aus politischen Gründen?
Es handelt sich vorwiegend um wirtschaftliche Gründe. Lokal gibt es Überkapazitäten, die Preise und Margen sind sehr tief. Wir gehen davon aus, dass dies noch mehrere Jahre so sein wird. Wir haben keine Chancen mehr gesehen, mit eigener Produktion in China erfolgreich tätig zu sein.
Die Schweiz zählt noch immer zu den führenden Standorten in der Pharmaindustrie, doch die beiden Schwergewichte Roche und Novartis waren schon besser in Form. Besteht die Gefahr, dass der hiesige Pharmasektor einen ähnlichen Abstieg erlebt wie die Finanzbranche?
Das glaube ich nicht. Roche und Novartis sind beide nach wie vor sehr solide Unternehmen. Es gibt in der Pharmabranche immer Phasen, in denen es in der Forschung und Entwicklung besser oder schlechter läuft. Roche und Novartis beschäftigen sich mit den richtigen Themen, sie haben die nötige Geduld und das Geld, um langfristig sehr erfolgreich zu sein.
Jüngst fehlten aber grosse Würfe, bei wichtigen Themen wie den Abnehmspritzen sind sie nicht dabei.
Auch hier gilt: Ohne Craziness gibt es keine Innovation. Ein Beispiel war die Übernahme von Genentech durch Roche im Jahr 1990. Der damalige Konzernchef Fritz Gerber zahlte 2,1 Milliarden Dollar für einen Kapitalanteil von 60 Prozent an der kalifornischen Biotechfirma. Das war seinerzeit eine riesige Summe, sicherte Roche aber eine führende Position bei Krebsmedikamenten. Craziness zeichnete auch Daniel Vasella aus. Was er für Novartis geleistet hat, ist hervorragend. Er war eine der führenden Figuren in der Pharmaindustrie weltweit.
Und seine Nachfolger verspielen den Erfolg?
Novartis ist noch immer auf dem richtigen Weg. Das Unternehmen trennte sich von Aktivitäten, die nicht zentral sind. Das wurde gut gemacht.
Welchen grossen Schritt unternimmt Lonza als Nächstes?
Wir suchen und brauchen im Moment keine Abenteuer. Unsere Strategie stimmt. Wir setzen bereits angestossene Initiativen wie die Übernahme der Biotech-Fabrik von Roche im kalifornischen Vacaville um. Wir investieren jährlich rund 1,7 Milliarden Franken in das bestehende Geschäft.
Das sind fast 25 Prozent des letztjährigen Umsatzes. Wie lange kann Lonza dieses Tempo durchhalten?
Es ist schwierig, sich auf Einzelheiten festzulegen, aber wir planen das heutige Level bis 2027 oder 2028 beizubehalten. In den vergangenen Jahren haben wir allein in Visp jährlich rund 900 Millionen Franken investiert. Die dortige Belegschaft hat sich seit meinem Amtsantritt im Jahr 2018 auf 5000 Beschäftigte verdoppelt. Jährlich kommen rund 500 Arbeitsplätze hinzu. Heute betreiben wir in Visp den grössten Produktionsstandort der Biotechindustrie weltweit.
Finden die Leute im Wallis überhaupt eine Wohnung?
Das Immobilienangebot ist knapp, nicht nur im Wallis. Wir unterstützen die Mitarbeitenden bei der Wohnungssuche, wo wir können.
Man hört immer wieder: So schön das Wallis auch ist, nach wenigen Jahren wollen die Mitarbeitenden wieder weg. Wie geht Lonza damit um?
Es gibt beides: Mitarbeitende, die 15 oder 20 Jahre lang bleiben. Andere gehen nach ein paar Jahren. Das ist überall so, nicht nur im Wallis.
Es gibt Stimmen im Wallis, die beklagen, Lonza nehme dem Gewerbe die gesamten Arbeitskräfte weg.
Das stimmt so natürlich nicht. Und wäre es denn besser, wir würden in Singapur oder Nordamerika investieren? Wir bieten im Wallis hochwertige Arbeitsplätze. Wir zahlen über eine halbe Milliarde Franken an Löhnen pro Jahr für unsere Beschäftigten in Visp.
Die Schweiz ist wirtschaftlich erfolgreich. Dennoch mehren sich in der Bevölkerung Stimmen, die sich besonders bei der Zuwanderung Beschränkungen wünschen.
Wir brauchen ausländische Mitarbeitende. Gehen Sie ins Restaurant, ins Spital, auf Baustellen oder zum Zahnarzt. Wer arbeitet dort? Ausländische Mitarbeitende. Ohne sie hätten wir kein Wachstum. Die Produktion würde wie in anderen Ländern ins Ausland ausgelagert. Das ist sehr gefährlich für die langfristige Entwicklung. Innovation und Produktion lassen sich auf Dauer nicht trennen.
Für wie wichtig halten Sie es, dass die Schweiz ihr Verhältnis mit der EU neu regelt?
Wir brauchen geregelte Verhältnisse mit Europa. Wir können nicht weiter Klimmzüge machen. Das ist nicht gesund. Die Personenfreizügigkeit ist entscheidend für das Wachstum. Wir brauchen dringend eine Lösung. Und ohne Kompromisse auf beiden Seiten wird es nicht gehen. Seien wir mutig.
Zur Person
Albert Baehny
Der Lonza-Präsident wurde in der breiten Öffentlichkeit bekannt, als er nach Ausbruch der Corona-Pandemie einen Deal mit der US-Firma Moderna abschloss und die Produktion des mRNA-Impfstoffes ins Wallis holte. Am kommenden Mittwoch, dem 8. Mai, gibt der Freiburger das Lonza-Präsidium nach sechs Jahren ab. Im Sommer tritt er auch als CEO des Pharmazulieferers zurück. Baehny bleibt noch Verwaltungsratspräsident beim Sanitärkonzern Geberit.
In den vergangenen Jahren hatten wirtschaftsfeindliche Vorlagen an der Urne Erfolg. Was kann die Wirtschaft tun, um bei der Bevölkerung für mehr Verständnis zu werben?
Sie muss die richtigen Themen ansprechen. Nehmen wir die Immobilien. Es gibt viel zu viele Hürden in der Schweiz, um neu zu bauen oder Gebäude zu renovieren. Natürlich befindet sich die Infrastruktur an den Kapazitätsgrenzen. Die Züge sind voll, die Strassen auch. Wir brauchen auch hier mutige Schritte, um sie auszubauen.
Nicht nur beim Bauen, auch bei der Unternehmensführung gibt es immer mehr Regeln. Doppelmandate sind heute verpönt. Sie waren sowohl bei Lonza wie beim Bauzulieferer Geberit verschiedentlich gleichzeitig CEO und Verwaltungsratspräsident. Ist Ihnen die Corporate Governance egal?
Nein. Es geht nicht ohne Governance-Regeln. Aber wenn sie zu absolut geltenden Vorschriften werden, wird es gefährlich. Es braucht in besonderen Situationen einen gewissen Interpretationsspielraum. So kann es Situationen geben, in denen das Doppelmandat für eine bestimmte Zeit gerechtfertigt ist.
Die Stimmrechtsberater fanden darin aber keinen Gefallen und plädierten dafür, Sie nicht zu wählen.
Als ich 2018 das Präsidium bei Lonza übernahm, lag die Marktkapitalisierung bei ungefähr 11 Milliarden Franken. Heute beträgt sie über 40 Milliarden Franken. Bei Geberit erreichte die Dividende 2014 etwas über 8 Franken. Dieses Jahr erhalten die Aktionäre 12.70 Franken. Ich habe genau das geliefert, was die Aktionäre wollen: Wert geschaffen.
Bei Geberit liegt der Aktienkurs derzeit aber über ein Drittel unter dem Allzeithoch. Damit können Sie nicht zufrieden sein.
Die europäische Bauindustrie befindet sich seit geraumer Zeit in einer sehr schwachen Verfassung. Dies spiegelt sich im Aktienkurs von Geberit. In diesem Umfeld ist die Leistung von Geberit aber hervorragend. Letztes Jahr stieg die operative Gewinnmarge (Ebitda) um 310 Basispunkte auf 29,9 Prozent.
Sie sind nun 72, am nächsten Mittwoch treten Sie bei Lonza als Präsident zurück, im Sommer auch als CEO. Wie schwer fällt Ihnen das Loslassen?
Überhaupt nicht schwer. Nun freue ich mich auf meine Freizeit. Ich habe in gewissen Phasen 80 Stunden pro Woche gearbeitet. Da bleibt nicht mehr viel übrig. Man ist schlicht zu kaputt, um noch Sport zu treiben am Wochenende. Ich habe auf mein Privatleben verzichtet.
Bereuen Sie das?
Noch nicht. Aber wenn ich mir etwas vorwerfe, dann, dass ich zu viel gearbeitet habe. Aber ich hatte auch Freude daran. Ich arbeite gern mit Menschen zusammen und bekam viel zurück. Ich glaube nicht, dass ich es bereuen werde.
Und nun wird Ihnen langweilig?
Bestimmt nicht. Ich freue mich darauf, mit meiner Frau zu reisen, ins Kino zu gehen oder Konzerte zu besuchen. Ich werde mich auch sozial engagieren. Ich habe noch keinen festen Plan, aber die Ideen sind da – auch solche, die crazy sind.
Wie lange machen Sie als Präsident bei Geberit weiter?
Ich werde meinen Rücktritt kommunizieren, wenn der Zeitpunkt reif ist. Ein Geheimnis muss bleiben.