Sieben Monate nach der gewaltsamen Übernahme des zuvor armenisch besiedelten Gebiets durch Aserbaidschan zieht Russland die Konsequenzen.
Im Kloster Dadiwank waren sie im November 2020 beinahe als Helden empfangen worden: Russische «Friedenstruppen» übernahmen die Kontrolle über das Kulturdenkmal. Rundherum brannten die Höfe, die armenischstämmige Familien hastig verlassen und angezündet hatten. Die Klosteranlage aus dem 13. Jahrhundert wurde zum geschützten Ort inmitten von Flucht und Zerstörung in einem der Bezirke rund um Nagorni Karabach, die nach dem Karabach-Krieg vom Herbst 2020 an Aserbaidschan zurückfielen.
Aus Dadiwank zogen die «Friedenstruppen» offenbar auch als Erstes wieder ab. Das Kloster, um dessen Erhalt sich die Armenier, wie auch um viele andere christliche Baudenkmäler in Karabach, grosse Sorgen machen, ist in die Hände der aserbaidschanischen Polizei übergegangen. Sieben Monate nach dem 24-Stunden-Krieg vom September 2023, in dessen Folge auch das noch übrig gebliebene Rumpf-Territorium der Karabach-Armenier unter die Kontrolle Aserbaidschans gefallen war, haben die russischen «Friedenstruppen» begonnen, ihre Mission zu beenden.
Absprache zwischen Moskau und Baku
Das vorzeitige Ende der russischen Truppenpräsenz auf dem Gebiet Nagorni Karabachs sei von der Führung Russlands und Aserbaidschans beschlossen worden, sagte der aussenpolitische Berater des aserbaidschanischen Präsidenten Ilham Alijew am Mittwoch, und der Sprecher des russischen Präsidenten Wladimir Putin bestätigte den Abzug. Dieser werde im August abgeschlossen sein. Er sei eine logische Folge der Anerkennung Karabachs als Teil Aserbaidschans, meinte der Vorsitzende des Auswärtigen Ausschusses im russischen Föderationsrat, der frühere Vizeaussenminister Grigori Karasin. Für Armenien klingt das höhnisch, weil Karasin die Vertreibung der Karabach-Armenier unterschlägt.
Auf Fernsehbildern ist zu sehen, wie russische Soldaten ihre persönliche Ausrüstung in Lastwagen verstauen, die dann in langen Kolonnen durch Aserbaidschan fahren. Irgendwo steigen die Armeeangehörigen in einen Eisenbahnzug der russischen Staatsbahnen um. Andere Bilder zeigen Kolonnen gepanzerter Fahrzeuge mit russischer Flagge und der Symbolik der «Friedenstruppen» unterwegs auf Strassen und durch Dörfer. Offenbar erfolgt der Abzug über die russische Teilrepublik Dagestan, die an Aserbaidschan angrenzt.
Diese Aufnahmen und der Abzug überhaupt haben zunächst vor allem symbolische Bedeutung. Im Herbst 2020 hatte das von Putin zusammen mit dem türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan vermittelte Waffenstillstandsabkommen Russlands militärische Präsenz im Südkaukasus verstärkt, indem russische «Friedenstruppen» zur Gewährleistung der Sicherheit in das verbliebene Rumpf-Karabach geschickt wurden. Diese hätten eigentlich für zunächst fünf Jahre dort bleiben sollen; das Abkommen sah eine Verlängerung vor, wenn keine der beteiligten Parteien etwas dagegen einzuwenden hätte.
Armenier verlieren Vertrauen
Schnell erwiesen sich die «Friedenstruppen» allerdings als passiv gegenüber aserbaidschanischen Übergriffen auf armenisch besiedelte Dörfer. Endgültig verloren die Karabach-Armenier das Vertrauen in sie während der neunmonatigen Blockade durch Aserbaidschan vom Dezember 2022 bis September 2023. Die «Friedenstruppen» konnten oder wollten die Verbindung zwischen Armenien und dem Rumpf-Territorium über den Latschin-Korridor nicht mehr sicherstellen. Sie liessen die Errichtung von aserbaidschanischen Grenzposten zu und verhinderten nicht, dass die Versorgungslage immer schlechter wurde. Im Gegenteil, sie profitierten sogar davon, indem sie an sie gelieferte Lebensmittel teuer an die Karabach-Armenier weiterverkauften.
Als aserbaidschanische Truppen am 19. September nach Nagorni Karabach eindrangen, blieben die «Friedenstruppen» gleichsam neutral. Wo es möglich war, halfen sie der Zivilbevölkerung, ihre Dörfer zu verlassen, und boten ihnen auf ihrem Stützpunkt auf dem früheren Flughafen von Stepanakert Schutz – allerdings unter freiem Himmel. Mehrere russische Soldaten wurden von den Aseri getötet, wohl weil sie Zeugen von Übergriffen geworden waren.
Der Flucht der gesamten armenischstämmigen Bevölkerung Karabachs nach Armenien sahen die «Friedenstruppen» zu, obwohl sie eigentlich für deren Schutz zuständig gewesen wären. Damit war ihre Präsenz im nun weitgehend entvölkerten Karabach obsolet geworden. Aserbaidschan wollte sie noch zum Minenräumen einsetzen.
Neue Kräfteverhältnisse im Südkaukasus
Der vorzeitige Abzug der Russen ist trotzdem mehr als nur symbolisch. Er ist als Erfolg Alijews und indirekt Erdogans zu werten. Letzterer hatte noch vor dem 24-Stunden-Krieg seiner Erwartung Ausdruck gegeben, dass Russland seinen Verpflichtungen nachkommen und fristgerecht spätestens 2025 abziehen werde. Armenische Gesprächspartner hatten im Oktober 2023 vermutet, der Westen habe Alijew das Plazet für die Operation gegen Karabach gegeben, verbunden mit der Erwartung, dieser werde dafür sorgen, dass die Russen zurückgedrängt würden.
Geopolitisch haben sich die Verschiebungen im Südkaukasus seither aber noch akzentuiert. Der Bruch zwischen Russland und Armenien, seinem jahrzehntelang engsten Verbündeten in der Region, vertieft sich immer mehr. Erewan fühlt sich von Moskau verraten und sucht die Unterstützung des Westens gegen die aggressive Rhetorik Alijews. Dieser sieht sich nach dem handstreichartigen Sieg in Karabach nun im Streit mit Armenien um Grenzgebiete und den Korridor in seine Exklave Nachitschewan gestärkt und zündelte Anfang April mehrmals entlang der Grenze.
Anstelle von Erewan gewinnt dagegen Baku für Moskau an Gewicht in der Region. Putin und Alijew, zwei Autokraten, stemmen sich gegen westliche Vermittlungsversuche. Allerdings lässt sich Alijew nicht vereinnahmen. Der Abzug der «Friedenstruppen» ist ein untrügliches Zeichen dafür, dass sich Russland, vom Krieg gegen die Ukraine absorbiert, militärisch im Südkaukasus auf dem Rückzug befindet. Aber eine neue Konfiguration der Kräfteverhältnisse unter den regionalen Akteuren ist erst im Entstehen.