Der französische Präsident will die Europäische Union im Ukraine-Krieg anführen. Trotz seinem Eingeständnis, Fehler gemacht zu haben, bleibt vor allem in Osteuropa das Misstrauen gegenüber Frankreich bestehen.
Nachdem Emmanuel Macron die Regierungen des Westens letzte Woche mit der Idee erschreckt hatte, die Entsendung von Bodentruppen in die Ukraine zu erwägen, reiste der französische Präsident am Dienstag nach Tschechien. In Prag forderte er die Verbündeten der Ukraine auf, angesichts eines «unaufhaltsam gewordenen» Russland «nicht feige» zu sein. Lange, erklärte der französische Staatschef, hätten sich die Europäer dem sich anbahnenden Drama nicht stellen wollen. Er denke aber, dass Frankreich und Tschechien sich heute bewusst seien, was vor sich gehe: die Rückkehr des Krieges auf europäischen Boden.
Macron inszeniert sich zu Beginn des dritten Kriegsjahres als Antreiber der Verbündeten in Europa. In Ostmitteleuropa trifft das auf Misstrauen. Dem Gedankenspiel, westliche Truppen auf ukrainischem Territorium einzusetzen, erteilten Tschechien, Polen, Slowenien und die Slowakei sofort eine Absage. Die Länder, die gemessen an ihrer Wirtschaftskraft bisher viel mehr in den Verteidigungskampf der Ukraine investiert haben als Frankreich, zeigten sich ob des Vorpreschens von Paris irritiert.
Schlechte Erfahrungen mit Macrons Gedankenspielen
Es ist allerdings nicht das erste Mal, dass Macrons öffentlich vorgetragene Gedankenspiele zu aussen- und sicherheitspolitischen Fragen in diesen Ländern für Unmut sorgen.
Zwar grenzt sich der französische Präsident inzwischen deutlich von Russland ab und betont bei jeder Gelegenheit, dass Wladimir Putin den Krieg in der Ukraine verlieren müsse. Unvergessen bleibt jedoch, wie Macron 2022 bis vor der Invasion russischer Truppen in der Ukraine mit dem russischen Präsidenten verhandelte, davon sprach, Russland nicht zu demütigen und Putin nicht zu provozieren. Erst nach den Greueltaten der Invasoren in Butscha im März des ersten Kriegsjahres änderte Frankreichs Präsident seine Haltung.
Insbesondere die osteuropäischen Nachbarn der Ukraine hatten immer wieder vor der russischen Bedrohung gewarnt, doch Frankreichs Präsident ignorierte das. Stattdessen sparte er nicht mit Ratschlägen an die Osteuropäer und die bis heute absolut gesehen tatkräftigste Unterstützerin der Ukraine, die USA.
Im letzten April warnte Frankreichs Staatschef die östlichen EU-Mitglieder in einem Interview mit «Politico» davor, sich allzu sehr an die USA anzulehnen und Europa womöglich in einen amerikanisch-chinesischen Krieg um Taiwan hineinzuziehen. Die Nachbarn im Osten sollten nicht zu «Vasallen» Washingtons werden, so Macron: ein Affront für die Verbündeten in Ost und West, die wie Frankreich Mitglieder der Nato sind.
Für die mittel- und osteuropäischen Nato-Staaten sind die Sicherheitsgarantien der USA unerlässlich, Macron hingegen spricht seit seinem Amtsantritt 2017 von der «strategischen Autonomie» Europas, die sowohl den industriellen und technologischen als auch den Verteidigungsbereich umfassen soll.
Auf Macrons «mea culpa» müssen noch Taten folgen
Dass die Nato nicht «hirntot», sondern quicklebendig ist, bestreitet Emmanuel Macron heute nicht mehr. Und auf die östlichen EU-Mitglieder ist der französische Präsident in den letzten Monaten zumindest rhetorisch zugegangen. So räumte er im vergangenen Sommer erstmals ein, dass Frankreich den osteuropäischen Staaten mehr Aufmerksamkeit hätte schenken sollen, die vor dem Einmarsch Moskaus in die Ukraine vor Russland gewarnt hatten. «Einige sagten, sie hätten eine Gelegenheit verpasst, den Mund zu halten. Ich denke, wir haben eine Gelegenheit verpasst, ihnen zuzuhören. Diese Zeit ist vorbei», sagte er am Rande einer Sicherheitskonferenz im slowakischen Bratislava.
Er spielte damit auf eine Bemerkung des damaligen französischen Staatspräsidenten Jacques Chirac im Jahr 2003 an. Chirac hatte seine östlichen Partner vor den Kopf gestossen, indem er erklärte, sie hätten «eine Gelegenheit verpasst, den Mund zu halten», als diese ihre volle Unterstützung für die USA im Irak-Krieg bekräftigten – zum Leidwesen des Franzosen, der dagegen war. Chiracs Satz gilt seither in Osteuropa als Sinnbild französischer Arroganz. Macron wollte dem mit seiner Rede entgegenwirken.
In Bratislava betonte Macron ausserdem, es dürfe keine Spaltung zwischen dem «alten Europa» und dem «neuen Europa» geben. Der französische Präsident würdigte damit die Tatsache, dass sich die Gewichte in der EU im Zuge des Ukraine-Krieges gegen Osten verschoben haben. Die warmen Worte Macrons wurden in Bratislava zwar mit Wohlwollen aufgenommen, das Misstrauen darüber, ob der französische Präsident in seiner Osteuropapolitik tatsächlich eine Wende eingeleitet hat, bleibt allerdings.
Zu Recht, wie das Ringen um europäische Artilleriemunition für die Ukraine in den letzten Monaten gezeigt hat. Zwar kündigte Macron in der vergangenen Woche an, dass sich Frankreich an der tschechischen Initiative, Artilleriemunition auch ausserhalb der EU einzukaufen, beteiligen werde. Bei seinem Besuch in Prag am Dienstag machte Macron allerdings keine finanziellen Zusagen. Die französische Beteiligung müsse noch auf der Ministerebene geklärt werden, so der Präsident, der damit die leisen Hoffnungen, Frankreich könnte einen Schritt auf den Osten zugehen, wieder enttäuschte.
Denn Macron beharrt nach wie vor darauf, dass die EU Finanzmittel vorrangig in den Ausbau europäischer Produktionskapazitäten investiere. Gemeinsam mit Estland und Polen forderte Frankreich deshalb kürzlich die EU-Kommission auf, EU-Anleihen zum Ausbau der Rüstungsindustrie auszugeben, so wie es die Kommission zur Finanzierung des milliardenschweren Corona-Wiederaufbaufonds getan hatte. Die EU-Kommission ist bisher nicht auf den Vorschlag eingegangen.
Die EU-Mitgliedsstaaten sollten mit den Geldern auch die heimische Rüstungsindustrie fördern, so die drei Staaten. Damit könnte Macron bei der Ukraine-Hilfe finanzielle Mittel sparen, die er sonst aus dem eigenen verschuldeten Haushalt bereitstellen muss. Zudem winkten lukrative Aufträge für französische Rüstungsfirmen. Diese haben derzeit Mühe, ihre Produktionskapazitäten zu erweitern und Fachkräfte zu finden.
Sie fordern deshalb vom Präsidenten klare finanzielle Zusicherungen. Macrons «Europa zuerst»-Strategie nährt in Osteuropa erneut den Verdacht, dass er darauf abziele, Frankreich und sich selbst zu helfen, bevor er der Ukraine Unterstützung gewährt.