Die medizinische Versorgung hat zwei grosse Schwachpunkte: Die Geräte- und Cybersicherheit ist vielerorts nicht gewährleistet. Und aufgrund des Personalmangels droht eine Unterversorgung wie in England.
Die Schweizer Spitäler sind die Basis der stationären Gesundheitsversorgung und gehören zu unseren kritischen Infrastrukturen. Werden ihre eingespielten Abläufe gestört oder fallen sie sogar ganz aus, kann das dramatische Auswirkungen haben. Bei genauerer Betrachtung zeigt sich, dass es vor allem zwei Schwachstellen gibt: die Datensicherheit und das Personal.
«Natürlich verschicken wir Patientendaten über Whatsapp, um Zeit zu sparen»: Das sagen zwei Ärzte, die an einem Spital im Kanton Bern arbeiten. Dass ihr Tun illegal ist, sei ihnen klar. Aber in der allgemeinen Hektik und Überlastung kümmere dies niemanden. Das lässt aufhorchen: Verstösse im Umgang mit Patientendaten gehören offenbar zur akzeptierten Routine.
Die Akteure des Gesundheitswesens sind verpflichtet, ihre sensitiven Informationen über das Health-Info-Net (HIN) auszutauschen. Das HIN funktioniert über das herkömmliche Internet. Dieses weist ererbte Schwächen auf, etwa die öffentliche Sichtbarkeit von IP-Adressen oder die Anfälligkeit für Überlastung. Cyberkriminelle nutzen das aus, um die medizinische Versorgung zu destabilisieren. Seit 2023 entsteht zwar der sogenannte HIN-Vertrauensraum. Das ist eine Art privates Internet für das Schweizer Gesundheitswesen, also ein vom öffentlichen Internet abgeschotteter digitaler Raum. Vernetzte medizinische Geräte und Applikationen sollen hier zuverlässig und sicher betrieben werden können.
High-Tech-Medizin bleibt verwundbar
So weit ist die Schweiz aber noch nicht. Für das sensitive Gesundheitswesen bleibt die Nutzung des Internets mit Risiken verbunden. Besonders verwundbar sind im Spital- oder Praxisalltag die radiologischen Apparate wie Magnetresonanztomografen (MRT).
Das zeigte die grosse Ransomware-Attacke «Wannacry» auf britische Krankenhäuser 2017. Damals waren nicht nur 200 000 Computer befallen, sondern auch die meisten radiologischen Apparate. Sie alle sind mit den Spitalsystemen vernetzt, um Daten und Bilder in Echtzeit übertragen zu können. Die sogenannte OT-/IT-Konvergenz, also die Integration von Systemen der Betriebs- und der Informationstechnologie, bietet Hackern ständige Angriffsmöglichkeiten. In Schweizer Spitälern stehen derzeit knapp 250 MRT-Geräte.
Eine weitere potenzielle Schwachstelle sind Pumpen zur Arzneimittel-Infusion. Eine Insulinpumpe beispielsweise überwacht den Blutzuckerspiegel eines Patienten und überträgt diese Daten an den Gesundheitsdienstleister. Das System besteht aus einem Sensor, einer Pumpe, einem angeschlossenen Messgerät und einer App. Hacker können hier überall eindringen, solange eine dieser Komponenten übers Internet kommuniziert. Im schlimmsten Fall werden kritische Systeme blockiert. Oder gar so manipuliert, dass sie Fehlfunktionen aufweisen.
Die Cybersicherheit unterscheide nicht zwischen Krise und Normalfall, betont René Oester, CEO von Axpo Systems. «Wir befinden uns im dauerhaften Krisenmodus. Digitalisierung und Automatisierung schaffen laufend neue Businessmodelle für Angreifer.» Das Security Operation Center von Axpo Systems ist spezialisiert auf den Schutz von OT-Infrastrukturen, die in systemrelevanten Sektoren wie dem Gesundheitswesen eingesetzt werden.
Schnelle Reaktion auf Cyberangriff überlebenswichtig
Die IT-Sicherheitsteams der Spitäler sind permanent gefordert, Angriffe im Datenverkehr zu identifizieren, bevor diese Schaden anrichten. Die Angreifer kommen über mehrere Flanken: Sie versuchen, mit Phishing-Attacken das gestresste Personal zur Preisgabe sensitiver Zugangsdaten zu bewegen. Gleichzeitig suchten sie, so Oester, «in automatisierten Prozessen mit KI gezielt und völlig anonym nach Sicherheitslücken».
Wenn die oft nur mit knappen Budgets ausgestatteten IT-Teams nicht rechtzeitig reagieren können, geraten in einem Spitalbetrieb schnell Menschenleben in Gefahr. Oester beschreibt den Fall eines kombinierten Grossangriffs auf ein Spital: «Bei einer Cyberattacke auf vitale Funktionen, begleitet von Datenraub und physischer Sabotage, ist im schlimmsten Fall ein temporärer Kollaps nicht auszuschliessen.»
Überlastetes Personal als Klumpenrisiko
Die andere Hauptsorge des Gesundheitspersonals ist der Fachkräftemangel in den eigenen Reihen. Auf dem Höhepunkt der Pandemie spendeten Zehntausende vom Balkon aus den Helden der Pflege Applaus. 2022 nahm das Volk die Pflegeinitiative mit deutlicher Mehrheit an. Die Politik arbeitet seither an der Umsetzung. Der grosse Befreiungsschlag ist bislang jedoch nicht gelungen. Medizinisches Fachpersonal steigt unverändert oft aus dem erlernten Job aus.
Und das ist kein Wunder. «Ich arbeite vor Erschöpfung oft im Blindflug», sagt die Pflegefachfrau A. B., die anonym bleiben will. Sie fürchte sich davor, Fehler zu machen. Fehler, die tödlich enden könnten. «Die Angst vor dem Versagen am Patienten raubt mir oft den Schlaf.» Eigentlich möchte B. gleich ein paar Durchhalteparolen nachschieben, um sich selbst Mut zu machen. Doch dann winkt sie müde ab.
So wie B. geht es immer mehr Angestellten in Pflegeberufen. Sie spüren mittlerweile mehr Belastung als Berufung. Burnout-Diagnosen sind im Gesundheitswesen doppelt so häufig wie in anderen Berufsgruppen. 2014 gaben in einer repräsentativen Umfrage des Verbands der Schweizer Assistenz- und Oberärzte 33 Prozent aller Befragten an, dass sie schlicht «nicht mehr können». 2022 waren es schon 52 Prozent. Und 59 Prozent berichteten gar von Situationen, die sie aufgrund der eigenen Übermüdung als für die Patienten gefährlich einstuften.
Büroarbeiten bedrängen medizinisches Kerngeschäft
Zur negativen Stimmung trägt die wuchernde Bürokratie bei. Im Alltag des medizinischen Personals frisst sie immer mehr Zeit für das eigentliche Kerngeschäft weg. Zum einen nehmen die regulatorischen Auflagen zu, die Bund oder Kantone den Spitälern und Arztpraxen aufbürden. Die Auswirkungen zeigen sich aber auch im individuellen Pflichtenheft. So rechnet eine betroffene Ärztin vor, dass sie «mit einem vollwertigen medizinischen Sekretariat oder einer schlanken KI-Anwendung wertvolle Zeit einsparen» könnte. Sie sei jedoch gezwungen, ihre Berichte selbst zu tippen oder die Terminverwaltung auf dem aktuellen Stand zu halten.
Auch das Pflegepersonal muss in seinem normalen Arbeitstag immer mehr Zeit für Verwaltungsarbeiten aufwenden. Zeit, die letztlich für die Versorgung der Patienten fehlt. Gerade für ältere, oft vereinsamte Menschen bedeutet ein kurzes Gespräch viel. Menschliche Zuwendung wird aber nicht vergütet, da sie im Tarifsystem keine pflegenotwendige Leistung darstellt. Das findet die Pflegefachfrau B. zwar stossend. Sie hat diese Tatsache aber längst verinnerlicht und verzichtet aufs Gespräch. Dies, obwohl sie spürt, dass es dem Patienten guttäte.
Unterversorgung wird wahrscheinlicher
Angesichts der Pensionierungen und Berufsaustritte benötigt die Schweiz in den nächsten fünf Jahren 43 400 neue diplomierte Pflegefachpersonen der Tertiärstufe und 27 100 Fachleute Gesundheit. Diese Zahlen legte das Bundesamt für Gesundheit im Juni 2024 vor, basierend auf Erhebungen des Schweizerischen Gesundheitsobservatoriums. Eine Lösung, um den Abwanderungstrend zu stoppen oder gar umzukehren, ist nicht in Sicht. Und weil so viele Fachkräfte aussteigen, steigt der Druck auf jene, die noch im System verbleiben.
Bislang war Unterversorgung in der Schweiz kaum ein Thema. Sie wird aber wahrscheinlicher. Im stationären Bereich ist vor allem die Pflege betroffen, regelmässig werden Bettenstationen geschlossen. Im ambulanten Bereich fehlen insbesondere Haus- und Kinderärzte sowie Psychiater. Schon heute nimmt jede dritte Praxis keine neuen Patienten mehr auf.
Im englischen Gesundheitssystem ist Unterversorgung bereits Realität: Angesichts des drohenden Zusammenbruchs der medizinischen Versorgung wurde im Januar in mehreren Spitälern der Notstand ausgerufen. Die Notfallaufnahmen verschärften ihre Triage. Das bedeutet: Sie priorisieren ihre medizinischen Massnahmen, wenn die vorhandenen Ressourcen nicht ausreichen. Das Personal muss kurzfristig entscheiden, wer eine lebensrettende Behandlung erhält und wer nicht. Unabhängig davon warten in Grossbritannien Millionen von Menschen tagelang auf Akutbehandlungen und unter Umständen jahrelang auf eine Operation.
Britische Verhältnisse werden auch in der Schweiz noch vor 2029 wahrscheinlich, wenn das überlastete Gesundheitspersonal nicht in ausreichender Zahl im Beruf gehalten werden kann. Selbst wenn die Medizintechnik sicherer wird und KI Entlastung bringt, ist klar: Motivierte Ärzte und Pflegende bleiben die unentbehrlichen Stützen einer leistungsfähigen Gesundheitsversorgung.