Die Opferzahlen des Gesundheitsministeriums in Gaza sind lückenhaft und inkonsistent. Doch bessere Daten gibt es nicht.
Die Vereinten Nationen benutzen sie, die meisten Medien verwenden sie, und auch viele Regierungen zitieren daraus: Die Opferzahlen des Gesundheitsministeriums in Gaza sind seit Beginn des Krieges am 7. Oktober die wichtigste Quelle, um die menschlichen Kosten des Krieges zu beurteilen. Sogar die israelischen Streitkräfte sollen sich darauf stützen, da sie selbst keine Daten zu den Opfern erheben. Trotzdem gibt es Zweifel an der Verlässlichkeit der Zahlen – manche Kritiker bezeichnen sie gar als Erfindung der Hamas.
Wie alle Behörden im Gazastreifen wird das Gesundheitsministerium seit 2007 von der Hamas kontrolliert. Allerdings sind längst nicht alle Mitarbeiter des Ministeriums Hamas-Mitglieder. Ausserdem wird ein Teil weiterhin von der Palästinensischen Autonomiebehörde in Ramallah bezahlt. In früheren Gaza-Kriegen erwiesen sich die Zahlen des Ministeriums als weitgehend zuverlässig und deckten sich mit Zählungen durch die Uno und die israelischen Streitkräfte.
Der gegenwärtige Krieg hat eine andere Dimension. Entsprechend hat das Ministerium zunehmend Mühe, verlässliche Daten vorzulegen. Laut Recherchen der Nachrichtenagentur Reuters wurden in den ersten sechs Wochen des Krieges die Namen, Geburtsdaten und Ausweisnummern der Toten von den Spitälern und Leichenhallen im Gazastreifen an eine zentrale Stelle im Shifa-Spital übermittelt und dort in Excel-Listen eingetragen, die dann an den Hauptsitz des Gesundheitsministeriums in Ramallah geschickt wurden.
Weil insbesondere im Norden des Gazastreifens viele Spitäler ihre Arbeit einstellen mussten, wurde es aber immer schwieriger, die Opfer zuverlässig zu erfassen. Schon Anfang November waren viele der 36 Spitäler nicht mehr oder nur noch teilweise in Betrieb. Am 10. November setzte das Ministerium die Veröffentlichung täglicher Opferzahlen aus, weil es sich wegen des Zusammenbruchs des Gesundheitssystems nicht länger in der Lage sah, verlässliche Zahlen zu nennen.
Auch der Ausfall des Internets erschwerte die Arbeit
Der wiederholte Ausfall des Internets und die Flucht vieler Spital-Mitarbeiter erschwerten die Arbeit zusätzlich. Als die israelische Armee am 15. November das Shifa-Spital in Gaza besetzte, brach das bisherige System zur Registrierung der Opferzahlen ganz zusammen. Am 12. November begann das Presseamt der Hamas-Regierung in Gaza jedoch, eigene Opferzahlen zu publizieren. Am 2. Dezember nahm das Gesundheitsministerium seine täglichen Updates wieder auf.
Erst später stellte sich heraus, dass das Ministerium bei der Erhebung der Daten seine Methodik verändert hatte. Statt sich allein auf die Daten aus den Spitälern und Leichenhallen zu stützen, zog es nun auch Zahlen aus «verlässlichen Medienberichten» dazu. Was genau darunter zu verstehen ist, bleibt unklar. Seit dem 6. Januar ist es für Einwohner des Gazastreifens zudem möglich, selber Todesopfer über ein Google-Formular des Gesundheitsministeriums zu melden.
Die Bedeutung dieser zusätzlichen Datenquellen hat mit der Dauer des Konflikts immer mehr zugenommen. So stammte Anfang April rund ein Drittel der Toten aus «verlässlichen Medienberichten», etwa acht Prozent waren online gemeldet worden. Beide Quellen sind weniger zuverlässig als die Erhebung der Daten in den Spitälern. Dies zeigt sich daran, dass in den veröffentlichten Namenslisten immer mehr Daten fehlerhaft sind. Zu vielen Toten gibt es zudem gar keine Daten mehr.
Drei Listen mit Tausenden Namen
Seit Oktober hat das Ministerium drei Listen mit den Namen der Opfer veröffentlicht. Die Listen enthalten neben den Namen auch das Geschlecht, das Alter, das Geburtsdatum sowie die Ausweisnummer.
- Die erste Liste mit 7028 Namen wurde am 26. Oktober inmitten einer wachsenden Kontroverse um die Zuverlässigkeit der Zahlen publiziert. Die Angaben in dieser Liste erwiesen sich als weitgehend konsistent, wie die beiden Professoren Michael Spagat und Daniel Silverman nach einer Überprüfung schrieben.
- Die zweite Liste vom 5. Januar enthielt die Namen von 7392 weiteren Toten. Erfasst wurde damit aber nur ein Teil der Opfer der vergangenen Monate. Die Gesamtzahl lag zu diesem Zeitpunkt laut dem Gesundheitsministerium bereits bei 22 600.
- Die dritte Liste vom 1. April enthielt die Namen von 21 323 Toten. Doch erneut gab es eine erhebliche Diskrepanz zwischen der Zahl der Toten auf der Liste und der an diesem Tag genannten Gesamtzahl von 32 623 Opfern.
Einige Tage später erklärte das Gesundheitsministerium, dass bei 11 300 weiteren Opfern die Daten «unvollständig» seien. Dies erklärt wohl, warum sie nicht in der Liste aufgeführt wurden. Vermutlich stammten sie aus Medienberichten. Immerhin gab es aber zu rund zwei Dritteln der Toten persönliche Daten. 2477 davon waren von ihren Verwandten online gemeldet worden. Der Rest wurde offenbar von den Spitälern übermittelt. Allerdings gab es viele Fehler: So war bei 3188 Einträgen in der Liste die Ausweisnummer falsch oder nicht vorhanden.
Fehler sind im Chaos des Krieges zu erwarten
Nun können gewisse Ungenauigkeiten nicht überraschen – es wäre eher erstaunlich, wenn im Chaos des Krieges keine Fehler passierten. Die Qualität der Daten hat jedoch zweifellos nachgelassen. Gerade bei der Erhebung der Opferzahlen im schwer zugänglichen Norden des Gazastreifens verlässt sich das Gesundheitsministerium offenbar zunehmend auf die weniger zuverlässigen Medienberichte. Die täglichen Updates zu den Opferzahlen sind daher eher als Annäherung an die Realität denn als deren exaktes Abbild zu verstehen.
Neben der Zahl der Toten sorgt vor allem die Frage für Kontroversen, welchen Anteil Frauen und Kinder an den Opfern haben. Kritiker werfen der Hamas vor, die Zahl der getöteten Frauen und Kinder systematisch zu übertreiben, um die israelische Kriegsführung zu diskreditieren. Das Gesundheitsministerium nennt in seinen täglichen Updates seit Monaten pauschal einen Anteil von über 70 Prozent Kindern und Frauen. Auch das Presseamt, das Kinder und Frauen getrennt ausweist, nennt unwahrscheinlich hohe Zahlen für Frauen und Kinder.
Im Prinzip ist ein hoher Anteil von Kindern unter den Toten nicht unplausibel. Denn die Bevölkerung im Gazastreifen ist sehr jung – fast jeder zweite Einwohner ist unter 18 Jahren.
Im Krieg ist aber zu erwarten, dass der Anteil der Männer unter den Toten höher ist als jener von Frauen und Kindern. Schliesslich sind es ausschliesslich Männer, die für die Hamas kämpfen – und getötet werden. Sowohl das Presseamt als auch das Gesundheitsministerium unterscheiden bei den Opfern nicht zwischen Zivilisten und Kämpfern. Es ist daher anzunehmen, dass unter den getöteten Männer auch bewaffnete Kämpfer sind. Umso verwunderlicher ist es, dass der Anteil der Männer an der Gesamtzahl der Opfer so niedrig sein soll.
Die Angaben des Presseamts werfen Fragen auf
Besonders die Zahlen des Presseamts der Hamas-Regierung wirken nicht plausibel. So gab es zwei Tage vor Veröffentlichung der dritten Liste an, dass unter den 32 623 Opfern 9460 Frauen und 14 350 Kinder seien. Dies ergibt einen Männeranteil von nur knapp 27 Prozent – also etwa in der Höhe ihres Anteils an der Bevölkerung. In der dritten Liste des Gesundheitsministeriums, die am 1. April veröffentlicht wurde, lag der Anteil der Männer dagegen bei 43,6 Prozent. Frauen und Kinder kamen entsprechend nur für 57,4 Prozent auf.
Eine Auswertung der Liste nach Alter und Geschlecht durch die NZZ zeigt, dass gerade die Männer im kampffähigen Alter unter den Opfern klar übervertreten sind.
Des Weiteren zeigt sich, dass die Männer sowohl bei den von den Spitälern übermittelten Daten wie auch bei den online gemeldeten Opfern in der Überzahl waren. Das Problem sind offenbar die Angaben aus den Medienberichten. Diese fliessen wegen «unvollständiger Daten» nicht in die Liste des Gesundheitsministeriums ein, sind dafür aber in den Opferzahlen des Presseamts enthalten.
Für den tiefen Männeranteil des Presseamts gibt es zwei mögliche Erklärungen: Entweder weist es bewusst getötete Männer als Frauen oder Kinder aus. Oder die Männer werden in den Medienberichten nicht erfasst. Denkbar wäre, dass die Medien in ihren Berichten Frauen und Kinder aufführen, getötete Kämpfer aber unerwähnt lassen. Wie viele Kämpfer bis heute getötet worden sind, ist unklar. Die Hamas und der Islamische Jihad machen selbst keine Angaben zu ihren Gefallenen.
Die israelische Armee nennt dazu nur in grösseren Abständen Zahlen. Auf Anfrage der NZZ teilt sie mit, in den letzten sechs Monaten seien mehr als 12 000 Terroristen neutralisiert worden. Auf Nachfragen zur Methodik antwortet die Armee nicht. Ein Armeesprecher hatte Ende Dezember gesagt, die Armee stütze sich zur Zählung der getöteten Kämpfer auf die Auswertung von Satellitenbildern, die Befragung von Gefangenen und andere Erkenntnisse der Geheimdienste.
Es erscheint allerdings zweifelhaft, dass die Armee auf dieser Basis tatsächlich die exakte Zahl der getöteten Kämpfer erfassen kann. Es bleibt auch offen, wie genau die Armee «Terroristen» definiert und wie sie diese von Zivilisten unterscheidet. Nicht ausgeschlossen ist, dass die Armee auch zivile Mitarbeiter der Verwaltung in Gaza als Hamas-Mitglieder und damit als Kombattanten betrachtet. Insgesamt sind die Angaben der Armee daher mit erheblicher Unsicherheit behaftet.
Die Zuverlässigkeit der Zahlen hat nachgelassen
Abschliessend lässt sich zu den Opferzahlen sagen: Die Zuverlässigkeit der Zahlen des Gesundheitsministeriums hat mit der Dauer des Krieges stark nachgelassen. Die Angaben aus dem Norden des Gazastreifens stammen bereits seit November überwiegend aus wenig vertrauenswürdigen Medienberichten. Die Daten weisen viele Fehler und Unstimmigkeiten auf. Insbesondere der vom Presseamt genannte Anteil an Frauen und Kindern erscheint deutlich zu hoch. Hier liegt der Verdacht einer bewussten Manipulation nahe.
Zuverlässiger und deutlich realistischer erscheinen die Angaben in den Listen des Gesundheitsministeriums. Laut der jüngsten Liste liegt der Anteil der Frauen und Kinder unter 60 Prozent – nicht über 70 Prozent, wie sonst behauptet. Weiter unklar bleibt dagegen, wie viele der getöteten Männer Kämpfer sind. Offen ist auch, wie viele Tote nicht erfasst worden sind, weil sie unter den Trümmern oder in Massengräbern liegen. Die Zahlen sollten daher in mehrfacher Hinsicht mit Vorsicht gesehen werden. Sie können zur Orientierung dienen, sind am Ende aber nur eine Annäherung an die Realität.