Kriege, Krisen ohne Ende. Und auf einmal: Weihnachten. Friede auf Erden ist kein Geschenk, sondern eine Hoffnung. Und vor allem ein Auftrag, den niemand den Menschen abnimmt.
Die Adventszeit ist bald um, die Hektik vor Weihnachten legt sich. Und doch zieht sich ein Misston durch die Ruhe der Festtage. Ist dieses Schreckensjahr endlich vorbei? Wird das nächste besser? Oder geht er nie zu Ende, dieser Albtraum aus Krieg und Krisen? Spurlos wird dieses Jahr an niemandem vorübergehen. Eine Schreckensmeldung reihte sich an die andere. Und nirgends zeigt sich ein Ausweg. Man wird müde in einer Welt, in der es scheint, als ob man sich nur auf eines verlassen könnte: dass es immer noch schlimmer wird.
In der Ukraine und im Nahen Osten geht das Morden weiter, islamistische Terroristen überziehen Europa mit barbarischen Terrorakten, weltweit sind Autokraten im Aufwind, die sich weder um Recht und Gesetz noch um internationale Vereinbarungen kümmern und ihre Interessen mit Gewalt durchsetzen. Die Welt scheint nur noch aus Konflikten zu bestehen, die nicht zu lösen sind.
Und nicht nur in der grossen Politik tun sich Abgründe auf. Der Prozess gegen Dominique Pelicot zeigt, welches Grauen sich hinter der Fassade biederer Bürgerlichkeit verbergen kann. In einer Schule in Wisconsin schiesst eine fünfzehnjährige Schülerin um sich, tötet einen Schüler, einen Lehrer und am Ende sich selbst. In Magdeburg fährt ein Mann mit dem Auto auf einem Weihnachtsmarkt durch die Menschenmenge. Er hat nur ein Ziel: möglichst viele Menschen töten. Fünf Menschen sterben, mehr als zweihundert sind verletzt, viele von ihnen schwer.
Laufend werden wir mit Taten konfrontiert, die uns vor Augen führen, dass Menschen zu allem Bösen fähig sind. Das macht Angst. Angst ist das beherrschende Gefühl der Zeit. Psychische Krankheiten, Depressionen nehmen zu, gerade bei Jugendlichen. Immer mehr Menschen fühlen sich ausgeliefert. Einer Welt, die sie nicht verstehen. Einem Leben, in dem sie sich selbst fremd geworden sind.
«Ich habe Angst!»
Der Philosoph Hans Blumenberg hat darauf bestanden, dass «Ich habe Angst!» zu den Sätzen gehöre, die man zu einem anderen Menschen nicht sagen dürfe. Weil es auf dieses Eingeständnis keine angemessene Erwiderung gebe. Keine Hilfe, keine Chance des Trostes. Wer «Ich habe Angst!» sage, erzeuge beim anderen eine Verlegenheit, die keinen Ausweg zulasse. Die in vielen Fällen naheliegendste Antwort, zu Angst bestehe kein Grund, verbiete sich, weil sie falsch sei. Immer. Und vor allem sei sie keine Antwort. Sie entziehe dem, der sich zu seiner Angst bekenne, das Wort.
Blumenbergs Einwand ignoriert die simple Alltagserfahrung, dass es guttut, Angst auszusprechen, auch wenn einen niemand von ihr erlösen kann. Aber er trifft einen Punkt: Wer seine Angst gesteht, fordert andere Menschen heraus. Indem er ein Gefühl äussert, das sie nicht nachempfinden können. Angst ist nicht teilbar. Jeder kennt nur seine eigene Angst und ist mit ihr allein. Aber trotzdem verbunden mit denen, die auf ihre Weise wissen, was es bedeutet, Angst zu haben.
«Fürchtet euch nicht!», ruft der Engel den Hirten auf dem Feld zu, und vielleicht klingt heute kaum ein Satz der Weihnachtsgeschichte so leer wie dieser. Wer kann uns von dem befreien, was uns Angst macht? Nicht fürchten kann sich nur, wer die Augen vor der Wirklichkeit verschliesst. Man denkt an Freunde, die keine Zeitungen mehr lesen, um sich von den schlechten Nachrichten nicht erdrücken zu lassen. Oder die es sich gerade jetzt so richtig gutgehen lassen: Lieber das Leben geniessen als sich vom Elend der Welt jede Freude madig machen lassen. Schliesslich muss man irgendwoher Kraft schöpfen, gerade in schwierigen Zeiten.
Das stimmt ja auch. Manchmal ist der kleine Friede, den wir mit der Welt schliessen, überlebenswichtig. Auch wenn er nur ein paar Stunden anhält: ein Abend mit Freunden, ein Familienfest, Musik hören, die uns berührt, einen Tag in den Bergen verbringen. Man spürt für Augenblicke, was es bedeutet, aufgehoben zu sein in der Welt. Natürlich, Friede auf Erden entsteht nicht, wenn wir uns aus der Welt zurückziehen. Aber eine Auszeit ist noch keine Weltflucht, und kleine Atempausen schärfen das Bewusstsein.
Grund zur Hoffnung
Vielleicht schöpfen wir danach auch wieder Hoffnung. Auch dafür gibt es schliesslich Gründe. Im brasilianischen Amazonasgebiet wurde so wenig Regenwald abgeholzt wie zuletzt vor sechs Jahren. In Syrien wurde ein menschenverachtendes Regime gestürzt. Was von den Rebellen zu erwarten ist, die den Sturz herbeigeführt haben, weiss noch niemand. Aber die ersten Anzeichen sind ermutigend. Es scheint, dass eine Regierung entstehen könnte, die Vertrauen schafft.
Es scheint so. Zugegeben, das ist wenig. Aber zugleich ist es unendlich viel. Weil es zeigt, was den Menschen ausmacht. Worin vielleicht das Wesen des Menschen besteht: darin nämlich, dass er das Wesen ist, das auch anders kann. Und dass die Welt das ist, was der Mensch aus ihr macht. Man kann die Geschichte der Welt als Chronik eines fortlaufenden Scheiterns betrachten. Krieg, Elend, Hunger, Gewalt. Aber man kann sie mit guten Gründen auch als Erfolgsgeschichte erzählen.
Gerade dann, wenn man die Gegenwart betrachtet. Noch nie lebten weltweit so viele Menschen unter so guten Bedingungen wie heute. Extreme Armut ist in den letzten dreissig Jahren weltweit um drei Viertel reduziert worden. Die Kindersterblichkeit hat sich in der gleichen Zeit halbiert. Das muss man sich immer wieder vor Augen führen. Nicht um das Gewissen zu beruhigen, sondern um einen nüchternen Blick zu bewahren. Ja, die Welt ist ein Chaos. Es gibt keinen Grund, die Angst zu verlieren. Aber wir dürfen nicht in Defaitismus verfallen.
Einer der genialsten Köpfe der italienischen Renaissance, Giovanni Pico della Mirandola, hat 1486 eine Rede publiziert mit dem Titel «Über die Würde des Menschen». Die alten Griechen, Muslime, Christen, schreibt er darin – alle seien sich einig, dass der Mensch das bewunderungswürdigste Wesen der Welt sei. Das sei wohl richtig. Doch wenn er darüber nachdenke, befriedigten ihn die Begründungen nicht, die dafür angeführt würden. Ist der Mensch tatsächlich etwas Besonderes? Was ist es, was ihn von anderen Lebewesen unterscheidet?, fragt Pico. Und gibt eine für seine Zeit völlig überraschende Antwort.
Wie ein Chamäleon
Der Mensch, sagt er, sei das einzige Wesen, das nicht als das auf die Welt komme, was es sei. Die Natur der Tiere sei fest bestimmt und bewege sich innerhalb von Gesetzen, die diese sich nicht selbst gegeben hätten. Der Mensch sei anders. Er sei, sagt Pico della Mirandola, «sein eigener, in Ehre frei entscheidender schöpferischer Bildhauer. Er formt sich selbst zu der Gestalt, die er sich geben will.» In seiner wechselnden, sich selbst verwandelnden Natur sei der Mensch wie ein Chamäleon, das seine Farbe laufend ändern könne. Bunt, sprunghaft. Immer wieder neu.
Diese Bestimmung fasst alle Gefährdungen und alle Chancen in sich, die im Menschen angelegt sind. Menschen können zu Monstern werden. Aber auch zu Rettern, zu Befreiern. Wenn sie, wie Pico sagt, in göttlicher Vernunft das aus sich machen, was sie sein können. Auch wenn wir heute vielleicht nicht mehr an eine göttliche Vernunft glauben: Der Mensch ist das Wesen, das sich ändern kann. Zu jedem Zeitpunkt. Er ist nicht nur der, der er ist, sondern auch der, der er sein will. Und er ist verantwortlich für das, was er aus sich und aus der Welt macht.
Davon erzählt Weihnachten: Ein Kind kommt auf die Welt und setzt etwas in Gang, was die Welt verändert. Und zwar von Grund auf. Nach christlichem Verständnis hat sich mit der Geburt Jesu etwas ereignet, was die Welt nicht einmal, sondern immer wieder aufs Neue verändert. Das muss man nicht theologisch ausdeuten, um zu begreifen, was gemeint ist. Es ist eine Alltagserfahrung. Eine Geburt ist immer ein Anfang, der über sich selbst hinausweist. Jedes Kind, das auf die Welt kommt, verändert sie ein bisschen. Indem es die Menschen zwingt, neu anzufangen.
Hannah Arendt hat das als Kern der christlichen Lehre bezeichnet: dass der Mensch nicht immer wieder neu anfangen kann, sondern dass er immer wieder neu anfangen muss. Er verdankt sein Dasein nicht sich selbst. Aber er muss den Anfang, der ihm gegeben ist, selbst setzen. Das ist die Chance, unter der das Leben des Menschen steht. Und die Zumutung, mit der die Menschen leben müssen. Friede auf Erden – das ist kein Geschenk, sondern eine Hoffnung. Und vor allem ein grosser Auftrag. Niemand nimmt ihn uns ab.