Um den 80. Jahrestag des Sieges im Zweiten Weltkrieg zu feiern, erlässt Moskau Sicherheitsmassnahmen. Die Ukraine macht dem Kreml nicht den Gefallen, während der Feierlichkeiten die Waffen ruhen zu lassen.
Die Moskauer müssen diese Woche mit verschiedenen Störungen im Alltag rechnen. Von Montag bis Freitag seien Einschränkungen des Internetzugangs möglich, teilten die Behörden mit. Grund sind die Feierlichkeiten zum 80. Jahrestag des sowjetischen Sieges über das nationalsozialistische Deutschland, deren Höhepunkt am 9. Mai die Militärparade auf dem Roten Platz mit ausländischen Gästen sein wird.
Einen Vorgeschmack darauf gab es zu Wochenbeginn. Als die Luftwaffe ihren Auftritt über dem Stadtzentrum übte, brach für eine Viertelstunde das mobile Internet zusammen. Die allgegenwärtigen Essenslieferdienste standen kurz still, die Taxi-Bestellung und die Navigation funktionierten nicht mehr, und das beliebte bargeldlose Bezahlen via QR-Code oder Telefonnummer setzte ebenfalls aus. Dass nachts Drohnen aus der Ukraine abgeschossen wurden und Flughäfen für Starts und Landungen gesperrt waren, beunruhigte viele Moskauer weniger als die Sorge um die Beeinträchtigung ihres Alltags. Dieser ist von einer Vielzahl mobiler digitaler Dienstleistungen geprägt.
Siegesfeiern mit Bezug zum Ukraine-Krieg
Jedes Jahr wird der 9. Mai, der ohnehin schon zu einem «heiligen» Feiertag erklärt wurde, noch pompöser gefeiert. Schüler verkleiden sich als Soldaten, studieren Kriegslieder ein und üben seit Wochen das Marschieren. An jedem Moskauer Geschäft klebt mindestens ein Plakat mit dem Logo der 80-Jahre-Feier, der «Mutter Heimat» von Wolgograd, die ihr Schwert dem Feind entgegenstreckt. Mitunter sind ganze Schaufenster in Orange und Schwarz beklebt, den Farben des Georgsbands, das zum Symbol für den Grossmacht-Patriotismus geworden ist.
Präsident Wladimir Putin hat die «militärische Spezialoperation», Russlands Krieg gegen die Ukraine, zur Fortsetzung des siegreichen Kampfs gegen den Faschismus erklärt. Viele Kriegsgegner, die ohnedies der martialischen Überhöhung des Sieges das besinnliche Gedenken an das Leid und die Millionen von Opfern vorzögen, empfinden das als Beleidigung der Kriegstoten. Aber es gibt dem Regime eine kraftvolle ideologische Botschaft in die Hand und suggeriert, die Gesellschaft stehe geschlossen hinter der Kriegspolitik des Kremls. Dabei ist das Gedenken an den Sieg 1945 tatsächlich ein gesellschaftlicher Kitt, die «Spezialoperation» hingegen vielmehr ein Spaltpilz.
Wie sehr Wunsch und Wirklichkeit voneinander abweichen, macht der Griff zur Drosselung des Internets deutlich. Diese Massnahme soll ukrainische Drohnenangriffe und die Koordination von Sabotage während der so bedeutsamen Feierlichkeiten verhindern. Damit zeigt sich der wunde Punkt, dass Russlands Feldzug gegen das Nachbarland auch nach mehr als drei Jahren in vollem Gange ist und dass auch das Hunderte Kilometer von der Front entfernte Moskau Kriegsschauplatz ist.
Das Kalkül geht nicht auf
Um Störungen zu vermeiden, hatte Putin vergangene Woche eine dreitägige Waffenruhe vom 8. bis am 10. Mai verkündet und gehofft, Kiew werde sich dem anschliessen. Putins Kalkül, den Krieg zugunsten prachtvoller Feierlichkeiten anzuhalten, durchkreuzte der ukrainische Präsident Wolodimir Selenski. Er warnte vielmehr vor Anschlägen in Moskau, die dann der Ukraine in die Schuhe geschoben würden. Die Sicherheitsfrage überschattet auch den Empfang der ausländischen Gäste, die unter Umständen wegen Drohnenangriffen nicht wie geplant landen können.
Der Kreml ist stolz darauf, dass Staatsgäste aus 29 Ländern mit Putin auf der Tribüne am Roten Platz sitzen werden. Unter ihnen sind die Staats- oder Regierungschefs der meisten postsowjetischen Staaten Zentralasiens und des Kaukasus, der chinesische Staats- und Parteichef Xi Jinping sowie zahlreiche Staatsführer aus Lateinamerika, Afrika und Asien, die zum Ereignis keinen grossen Bezug haben. Aus der EU wollen der slowakische Ministerpräsident Robert Fico und aus Serbien Präsident Aleksandar Vucic anreisen. Die Gästeliste soll zeigen, dass Russland entgegen den westlichen Bestrebungen nicht isoliert ist.
Eine Einladung erging auch an die amerikanische Botschafterin in Moskau. Die Hoffnung, vielleicht gar den amerikanischen Präsidenten Donald Trump auf der Ehrentribüne begrüssen zu dürfen, blieb Wunschdenken. Die russisch-amerikanische Annäherung der vergangenen Monate brachte bis jetzt kaum konkrete Ergebnisse. Die russische Rhetorik veränderte sich aber. Funktionäre und Propagandisten sprechen plötzlich nicht mehr von den USA als dem Urgrund allen Übels auf der Welt.
Jetzt steht das Gemeinsame im Vordergrund, wofür der Sieg 1945 auf einmal wieder als erfolgreiches Vorbild dient. Als gemeinsames, russisch-amerikanisches Feindbild werden dagegen Europa und der «Eurofaschismus» dargestellt, worüber der Auslandgeheimdienst SWR ein längliches Pamphlet verfasste. Dieser Extremismus soll sich unter anderem in der Unterstützung des angeblichen «Nazi-Regimes» in Kiew manifestieren.
Stockende Verhandlungen
Die russisch-amerikanischen Gesten der Annäherung dürften bei den Chinesen gemischte Gefühle auslösen. Putin bewegt sich aber auch gegenüber Trump auf schmalem Grat. Dass er nach wie vor die von den Amerikanern und Ukrainern gewünschte 30-tägige Waffenruhe ablehnt und dafür unerfüllbare Forderungen stellt, hat offenbar auch Trump zum Nachdenken gebracht. Seit dem Besuch des Sondergesandten Steve Witkoff in Moskau vor anderthalb Wochen sind die Verhandlungen über ein vorläufiges Ende des Krieges festgefahren. Der Kreml schien nicht bereit, Trump ein Geschenk zu der für diesen wichtigen Wegmarke von hundert Tagen im Amt zu machen.
War davor noch die Rede von Zugeständnissen Putins gewesen und hatte Trump von einem fast fertigen «Deal» gesprochen, erneuerten seither eine Reihe hochrangiger russischer Funktionäre die weitreichenden russischen Bedingungen. Putin hatte diese bereits im Sommer 2024 geäussert – unter anderem die vollständige Einverleibung der vier 2022 annektierten ostukrainischen Regionen sowie die völkerrechtliche Anerkennung dieser Territorien und der Halbinsel Krim als Teil Russlands. Hardliner brachten sogar die Hafenstadt Odessa ins Spiel.
Putin fühlt sich mächtig genug, von Trump diese und weitere Zugeständnisse wie die Aufhebung der Sanktionen fordern zu können. Er scheint zuversichtlich zu sein, eine amerikanische Absage an den Friedensprozess verkraften und die bilateralen Beziehungen dennoch verbessern zu können. So hat er keinen Grund, plötzlich seine Kriegsziele aufzugeben.