Er war viele Jahre Vorstandschef der Panzerbauer Krauss-Maffei Wegmann und KNDS. Im Interview spricht Frank Haun über ungenügende europäische Abschreckung, Kriegswirtschaft und das Bemühen ausländischer Dienste, Mitarbeiter zu kompromittieren.
Herr Haun, Ihr Abschied fällt zusammen mit dem Ende der europäischen Friedensordnung. Was geht Ihnen da durch den Kopf?
Mehr Europa wagen, viel mehr Europa. Ein abschreckungsfähigeres Europa, das von einer konsolidierten Industrie so einheitlich wie möglich gerüstet wird.
Sie führen seit vielen Jahren mit KNDS ein europäisches Rüstungsunternehmen. Warum kommt die Europäisierung, insbesondere in der Verteidigungsindustrie, nicht voran?
Das liegt an nationalen Egoismen und mangelndem Verständnis dafür, dass gemeinsame Systeme Europa abschreckungsfähiger machen würden. Einheitliche Systeme sparen Kosten und vereinfachen die Logistik. Sie erhöhen die Interoperabilität zwischen den Streitkräften Europas und damit die gemeinsame Kampfkraft. Zurzeit haben wir eine enorme Varianz, die unnötig komplex ist und bei längeren Konflikten Schwierigkeiten bereiten wird.
Darüber reden wir aber seit Jahrzehnten. Sie sind jetzt 65 Jahre alt. Glauben Sie, dass sich diese Situation noch zu Ihren Lebzeiten ändern könnte?
Ansätze sind da, und Deutschland zeigt inzwischen Initiative. Wir haben mit unserer Bundesregierung Rahmenverträge für den Kampfpanzer Leopard geschlossen, denen sich jetzt andere Länder anschliessen. In diesen Ländern wächst das Bewusstsein, dass es mit nationalen Sonderwünschen nicht weitergehen kann wie bisher.
Wo ist dieses Problem besonders signifikant?
Wir haben in Europa siebzehn verschiedene Kampfpanzertypen in Dutzenden Untervarianten. Ich will den Wettbewerb nicht einschränken, aber drei würden vielleicht reichen. Das würde vieles vereinfachen, vor allem aber unsere Abschreckungs- und Durchhaltefähigkeit erhöhen.
Sie sind seit 21 Jahren im Rüstungsmanagement tätig. Wie würden Sie die heutige Sicherheitslage in Europa im Vergleich zu den zurückliegenden Jahrzehnten bewerten?
Deutlich gefährlicher. Nach dem Kalten Krieg haben wir in Europa militärische Fähigkeiten massiv abgebaut und finanzielle Ressourcen in die Sozialsysteme umverteilt. Heute stehen wir schwächer da als vor 30, 40 Jahren. Das gilt auch für andere europäische Staaten, mit wenigen Ausnahmen wie Finnland und der Schweiz. Sie haben auch nach 1990 immer hohen Wert auf ihre Armeen gelegt.
Wie ist in Anbetracht dieser Beschreibung der nach wie vor desaströse Zustand der Bundeswehr zu erklären?
Durch Realitätsverweigerung in Teilen des politischen Systems. Die «Friedensdividende» ist Geschichte. Jetzt geht es um Friedenssicherung vor unberechenbaren, aggressiven Gegnern, die bisher jedes Verhandlungsergebnis mit Füssen getreten haben. Dafür müssen wir so schnell wie möglich wieder abschreckungsfähig werden. Das hat noch nicht jeder begriffen.
Was hat sich seit der Zeitenwende im Beschaffungswesen der Bundeswehr spürbar verbessert?
Die Prozesse sind schneller und zielgerichteter geworden. Das hätte alles früher passieren müssen, aber es wird tatsächlich endlich besser. Meiner Ansicht nach muss jedoch mehr für das Heer getan werden. Deutschland ist – auch und vor allem im Denken der Nato-Planer – eine Landmacht. Das Übergewicht von Luftwaffe und Marine in den deutschen Verteidigungsausgaben deckt sich damit nicht. Die Planungen der Bundeswehr sehen hier zwar Veränderungen vor, sind allerdings von einer gesicherten Finanzierung abhängig.
Die ist derzeit allerdings nicht zu sehen. Wie zuversichtlich sind Sie, dass sich das in den nächsten Jahren ändert?
Die höchste Priorität staatlichen Handelns gehört der inneren und äusseren Sicherheit. Das ist die Basis, auf der alles andere aufbaut. Unsere Bevölkerung hat das längst erkannt, wie Umfragen zeigen. Es muss mehr für die Bundeswehr getan werden.
Darüber reden wir in Deutschland auch schon seit zwei Jahrzehnten. Signifikante Änderungen gibt es bis jetzt nicht. Wegen der Abgabe von Waffen an die Ukraine ist die Bundeswehr eher noch schwächer geworden. Dabei tobt der Ukraine-Krieg nicht erst seit 2022, sondern seit 2014.
Für mich sogar seit 2007. Ich habe die kalte, klare Kampfansage von Wladimir Putin auf der Sicherheitskonferenz in München live erlebt. (Damals erklärte Putin den Westen zum Gegner und eröffnete einen neuen kalten Krieg; Anm. d. Red.) Da war mir klar, dass Russland kein Freund sein wird.
Wie laut muss der Schuss sein, bis Deutschland aus seinem verteidigungspolitischen Schlaf aufwacht?
Der Weckruf müsste wohl noch lauter sein. Ja, es tut sich zaghaft etwas. Aber das ist in Anbetracht der Bedrohungslage bei weitem nicht genug. Und es muss nachhaltiger und dauerhaft werden. Es besteht in der Bevölkerung kein Zweifel, dass wir mehr für die Bundeswehr tun müssen. Die Frage ist nur, ob durch höhere Schulden oder durch andere Priorisierung im Haushalt.
Wie würden Sie entscheiden: höhere Schulden oder die Staatsausgaben anders priorisieren?
Das ist nicht die Grundsatzfrage guter Politik. Die hat – soweit ich mich erinnere – Henry Kissinger einmal formuliert. Sie lautet für jede Regierung: Was will ich unbedingt erreichen, und was will ich unbedingt vermeiden? Erst wenn man sich darüber klar ist, kann man alles andere danach ausrichten.
Und was ist es, das unbedingt erreicht werden muss?
Die Wähler wollen nicht noch mehr Wohlfühlpolitik, sondern in erster Linie Sicherheit. Sie wissen, dass sie dafür auf andere Dinge verzichten müssen. In Berlin ist das aber noch nicht angekommen.
Haben Sie seit der Zeitenwende leichteren Zugang zur Politik?
Eindeutig ja.
Wie oft haben Sie seitdem Bundeskanzler Olaf Scholz getroffen?
Zwei- oder dreimal, aber das ist nicht entscheidend. Wichtig ist, dass der Zugang heute grundsätzlich gegeben ist. Wenn man miteinander sprechen will, bekommt man Termine, auch bei Ministern. Wirtschaftsminister Robert Habeck hat mich mal angerufen und gefragt, wie er bei der sicheren Versorgung mit kritischen Rohstoffen helfen kann. Auch Verteidigungsminister Boris Pistorius ist für uns deutlich zugänglicher als seine Vorgängerinnen und Vorgänger. Man redet zielgerichteter miteinander und geht aufeinander zu.
Wie bewerten Sie das Scheitern der Bundesregierung in einer sicherheitspolitisch so schwierigen Situation wie heute?
Ich bin kein Politiker und masse mir kein Urteil an. Aber manchmal ist ein Ende mit Schrecken besser als ein Schrecken ohne Ende.
Was erwarten Sie von der neuen Regierung?
Ich erwarte, dass sie Kissingers Fragen beantwortet. Allen wohl und niemandem wehe: Das funktioniert nicht, wenn man dafür die Ressourcen nicht hat.
Die Verteidigungsfähigkeit Deutschlands hängt entscheidend an der Rüstungsindustrie. Auch da läuft es eher stockend. Wann kommt endlich der erste neue Leopard-Panzer für die Bundeswehr?
Was beauftragt ist, wird von KNDS vertragsgemäss geliefert. Da läuft nichts stockend. Das ist beachtlich, wenn man bedenkt, dass unsere Industrie 30 Jahre lang notgedrungen mit den Verteidigungsbudgets ihrer Abnehmerstaaten schrumpfen musste.
Wie viele Lieferanten haben Sie, um einen Panzer zu bauen?
Eine vierstellige Zahl. Bei Panzerstahl ist es derzeit ein einziger, und der sitzt in Schweden. Unsere Lieferketten sind grundsätzlich stabil, aber an solchen Stellen brauchen wir mehr Volumen.
Der Bedarf an Kampfpanzern in der Nato ist gross. Was muss geschehen, damit Sie die Produktion hochfahren und Panzer auf Halde bauen?
Panzer auf Halde bauen dürfen wir nicht. Das sind Kriegswaffen. Für jeden einzelnen Panzer brauche ich eine staatliche Herstellungsgenehmigung. Wenn mir die Bundesregierung eine solche Erlaubnis gibt und mir vertraglich zusichert, dass sie die Panzer später auch abnimmt, dann gehe ich in Vorleistung. Wenn ich mir Hunderte Panzer auf den Hof stelle, ist das eine irrsinnig hohe Kapitalbindung. Die Risiken, die damit verbunden sind, kann kein Unternehmen ohne staatliche Abnahmegarantie eingehen.
Über Russland heisst es immer wieder, es produziere innerhalb von drei Monaten so viele Waffen wie Europa in einem Jahr. Wie machen die das?
Ob das wirklich so ist, wissen wir nicht. Wenn es so wäre, dann wäre Bashar al-Asad vermutlich noch in Syrien. Sicher ist: Die Russen haben Kriegswirtschaft. Damit beschleunigt man Prozesse. Es stehen wesentlich mehr finanzielle Ressourcen und Personal zur Verfügung. Das hat natürlich mit Marktwirtschaft nichts zu tun. Das ist Kommandowirtschaft.
Was würde es für ein Unternehmen wie KNDS bedeuten, wenn die Regierungen Deutschlands und Frankreichs auf Kriegswirtschaft umstellen würden?
Was soll das heissen: Kriegswirtschaft? Dass ein staatlicher Rüstungskommissar der Automobilindustrie befiehlt, ab nächster Woche Kampfpanzer zu bauen? Das ist irreal, und es wäre unklug. Nichts ist leistungsfähiger und innovativer als eine funktionierende Marktwirtschaft. Die Verteidigungsindustrie braucht nicht noch mehr Staat.
Was braucht sie dann?
Sie braucht in Europa mehr Möglichkeiten zur grenzübergreifenden Zusammenarbeit in Entwicklung und Fertigung, sie braucht europäisch harmonisierte Standards und Normen, ein europäisch harmonisiertes Exportrecht. Sie braucht Kunden, die ihre Beschaffungsvorhaben miteinander abstimmen. Sie braucht eine Zusammenarbeit zwischen Beschaffungsbehörden und Industrie, in der nicht fünfzehn Jahre lang an Neuem herumentwickelt wird, das dann nur fünf Jahre Überlegenheit sicherstellt, sondern umgekehrt. Das würde mehr Energien freisetzen als alles, was heute landläufig unter der Dröhnvokabel «Kriegswirtschaft» verstanden wird.
Wie viele Leopard-2-Panzer haben Sie gerade in den Auftragsbüchern?
Wir haben Aufträge aus Norwegen, Schweden, Deutschland und Ungarn, und wir führen Gespräche mit einer ganzen Reihe weiterer Nato-Mitglieder.
Sind das genügend Aufträge, so dass Sie die Produktionskapazitäten hochfahren und schneller werden?
Das tun wir bereits. Wir haben unsere Produktions- und Lagerfläche in den vergangenen zwei Jahren in einer Grössenordnung von sieben Fussballfeldern erweitert. Wir reden in Deutschland inzwischen über Rahmenverträge von bis zu 500 Leopard 2. Das sind echte Stückzahlen und keine homöopathischen Dosen mehr. Das rechtfertigt unternehmerisch höhere Kapazitäten. Unser Ziel ist, ab 2027 jährlich 500 gepanzerte Fahrzeuge ausliefern zu können.
Russland setzt im Krieg in der Ukraine Panzer aus den 1950er und 1960er Jahren ein, und dies durchaus erfolgreich. Was spricht trotzdem dafür, einen Leopard 2 mit High-End-Technologie zu bauen? Warum geht es nicht einfacher und schneller?
Wir werden immer Masse mit Klasse bekämpfen müssen, darauf hat schon unsere Abschreckungsdoktrin im Kalten Krieg aufgebaut. Hinzu kommt: In den Zivilisationen des Westens hat ein Soldatenleben mehr Wert als im Russland von Wladimir Putin. Deshalb sind unsere Panzer aufwendiger, komplexer und teurer, aber eben auch durchsetzungsfähiger.
Wie wappnen Sie die Panzer künftig gegen neue Bedrohungen wie Drohnen?
Unsere neuen Systeme verfügen über passive, reaktive und aktive Schutztechnologien, die auch aus Erfahrungen in der Ukraine abgeleitet sind. Ein Beispiel dafür ist der neue Leopard 2 A-RC 3.0: weniger Gewicht, höhere Beweglichkeit, überragender Schutz für die Besatzung, hochgradige Vernetzbarkeit mit anderen Systemen auf dem Gefechtsfeld.
Welche Rückschlüsse ziehen Sie noch aus dem Ukraine-Krieg für künftige Entwicklungen?
In jedem Krieg geht es letztlich um die Eroberung oder die Verteidigung von Territorium. Dafür sind Kampfpanzer unerlässlich. Mit Cyberangriffen und moderner Software überquert man noch keinen Fluss und nimmt keine Stadt ein. Die Bedeutung von Drohnen und die Renaissance der Artillerie sind darüber hinaus bedeutende Kennzeichen des Kriegs in der Ukraine. Und die bittere Erkenntnis, dass der Westen versäumt hat, die Artilleriemunition seiner verschiedenen Hersteller rechtzeitig für alle westlichen Artilleriesysteme zu qualifizieren, die in der Ukraine im Einsatz sind. Daran arbeiten wir.
Russland hat in der Ukraine erbeutete Leopard-Panzer in Moskau als Trophäe präsentiert. Was ging Ihnen in Anbetracht dieser Bilder durch den Kopf?
Das gehört zum Krieg, damit musste man rechnen, und damit wird man weiter rechnen müssen. Am Ende zählt aber nicht der zerstörte Leopard als Schaustück auf dem Roten Platz. Davon wird der Ausgang dieses Kriegs nicht abhängen. Der hängt davon ab, wer die Mittel und den Willen hat, ihn zu beenden – militärisch oder diplomatisch.
Wie hoch ist Ihre Rohstoffabhängigkeit von China?
Unsere Lieferketten sind robust, unsere Abhängigkeit von China ist eher gering. Rohstoffe, auf denen China die Hand hat, brauchen wir nicht in dem Masse wie andere Industriezweige.
In diesem Sommer wurde ein mutmasslich russisches Mordkomplott gegen den Rheinmetall-Chef Armin Papperger aufgedeckt. Wie sehr gefährdet sind Sie?
Die Bedrohung gibt es. Sie dürfte mit meinem Ausscheiden aus dem Berufsleben an diesem Wochenende abnehmen.
Wie hoch ist die Gefahr, dass Mitarbeiter durch ausländische Nachrichten- oder Geheimdienste kompromittiert werden?
Es gibt vielfältige Versuche, an das Wissen unseres Unternehmens heranzukommen, und sie nehmen zu.
Gab es in den vergangenen Jahren Beispiele, in denen diese Versuche erfolgreich waren?
Keiner ist in den Kernbereich unseres Know-hows vorgedrungen.
Wer hat diese Versuche unternommen?
Die meisten Spuren führen nach Osten.







