Nach dem Kalten Krieg rüstete Schweden ab. Russlands Angriff gegen die Ukraine brachte das Umdenken. Nun muss die Regierung in Stockholm aufholen.
Solidarität statt Neutralität: So lautet das neue Paradigma der schwedischen Verteidigungspolitik. Nach dem Beitritt zur Nato steht Schweden unter dem Schutz der Alliierten. Umgekehrt hat das Verteidigungsbündnis im Nordosten Europas strategisch wichtige Gebiete dazugewonnen.
Doch welchen Beitrag kann Schweden gegen die russische Bedrohung leisten? Und wie steht es um die schwedischen Streitkräfte?
Nach dem Zweiten Weltkrieg verfügte das Land über die viertgrösste Luftwaffe der Welt. Während des Kalten Krieges, als die Bedrohung durch die Sowjetunion bis nach Skandinavien spürbar wurde, hätte Schweden bis zu 850 000 Soldaten mobilisieren können. Doch als der Eiserne Vorhang 1991 fiel und der Konflikt zwischen West und Ost abzuflauen schien, tat Schweden das, was viele westliche Länder taten: Es rüstete ab.
Stützpunkte wurden geschlossen, die allgemeine Wehrpflicht abgeschafft und die Verteidigungsausgaben radikal gekürzt. Von Militärexperten wurde die Entwicklung schon damals kritisch betrachtet. Als der Oberbefehlshaber der schwedischen Streitkräfte 2012 gefragt wurde, wie lange sich das Land gegen einen militärischen Angriff verteidigen könnte, lautete seine Antwort: eine Woche.
Nachdem Russland die Krim 2014 annektiert hatte, begann Schweden wieder verstärkt in seine Verteidigung zu investieren. 2018 wurde die Wehrpflicht wieder eingeführt, und in den letzten fünf Jahren haben sich die Verteidigungsausgaben verfünffacht. In der Nato kann Schweden heute vor allem in drei Bereichen einen Beitrag leisten:
1. Geopolitische Vorteile in der Ostsee und der Arktis
In Nordosteuropa bringt Schweden der Nato strategische Tiefe. Es verbindet die Arktis mit der Ostsee und die Ostsee mit dem Atlantik. Mit Ausnahme von Russland gehören alle Länder an der Ostsee der Nato an. Die Meerenge Öresund zwischen Kopenhagen und Malmö wird fortan komplett von der Nato kontrolliert, ebenso die Insel Gotland. Wer Gotland beherrscht, hat in der Ostsee einen strategischen Vorteil.
Sollte der Konflikt zwischen der Nato und Russland an der Ostgrenze eskalieren, wäre Schweden ein wichtiges Transitland für den Transport von Material und Truppen. So könnte die USA Verstärkung über den Atlantik an den Hafen von Göteborg liefern. Von dort aus würden Waffen und Truppen auf Schienen oder über den Wasserweg weiter nach Finnland oder in das Baltikum transportiert. Für Estland, Lettland und Litauen bedeutet das eine Entlastung, denn bisher waren die baltischen Staaten nur über eine 65 Kilometer lange Grenze – die Suwalki-Lücke – mit den restlichen Nato-Staaten verbunden.
Auch in der Arktis kann die Nato durch Schwedens Beitritt ihre Macht ausbauen. Sieben der acht Länder, die den arktischen Rat bilden – also alle ausser Russland – sind nun Teil der Nato. Unter den schmelzenden Eismassen verbergen sich begehrte Rohstoffe und neue, kürzere Seewege. Militärexperten prophezeien in der Polarregion daher bereits die nächste Eskalation. Russland gehört mehr als die Hälfte der arktischen Küstenlinie, und mit China bekundet ein potenzieller Verbündeter des Kremls ebenfalls Interesse an der Arktis.
Etwa 15 Prozent von Schwedens Fläche liegen innerhalb des Polarkreises. Die Streitkräfte verfügen daher über Erfahrung mit den arktischen Bedingungen. Diese ist wichtig, denn Kriegsführung bei hohen Minustemperaturen erfordert eine andere Ausrüstung von der Kleidung bis zu den Waffensystemen. Soldatinnen und Soldaten müssen die Kälte nicht nur physisch, sondern auch psychisch aushalten können.
2. Wenig Truppen, dafür U-Boote und Kampfjets
Die grösste Schwäche der schwedischen Armee ist ihre Truppengrösse. Im Kriegsfall könnte Schweden rund 60 000 Soldatinnen und Soldaten mobilisieren. Zum Vergleich: Im kleineren Nachbarland Finnland wären es 280 000. Das Land braucht auch deshalb dringend mehr Soldaten, weil es der Nato eine ganze Brigade zur Verfügung stellen muss. Eine Brigade setzt sich aus 5000 Personen zusammen. Bei den schwedischen Streitkräften arbeiten heute etwa so viele Berufssoldaten.
Das schwedische Verteidigungsministerium hat das Problem erkannt und will die Truppen bis 2030 auf 100 000 steigern. Um das Ziel zu erreichen, wird die jährliche Zahl der Rekruten von 5500 auf 10 000 erhöht.
Mit dem Beitritt Schwedens erhält die Nato dafür eine Marine, die es gewohnt ist, in der seichten Ostsee zu operieren. Schweden besitzt neben Korvetten, Patrouillenschiffen und Minensuchbooten auch vier U-Boote. Diese werden dringend benötigt, da weder Dänemark, Finnland, noch die baltischen Staaten unter Wasser operieren können. Die USA verfügt zwar über U-Boote, diese sind in den Untiefen der Ostsee jedoch unbrauchbar.
Die Überwachung des Meeresgrundes ist auch ausserhalb der Kriegszeiten dringlicher geworden. Unter der Ostsee verlaufen Gasleitungen und ein Netz aus Datenkabeln. Im Herbst 2022 wurden die Nord-Stream-Pipelines vor der dänischen Insel Bornholm gesprengt, und im letzten Oktober wurde die Gasleitung Balticconnector, die im finnischen Meerbusen verläuft, beschädigt. In beiden Fällen ist noch unklar, wer die Infrastruktur sabotiert hat.
Neben der Marine besitzt Schweden eine der grössten Luftwaffen Europas mit rund 100 Kampfjets. Damit sind die Nato-Länder in Nordosteuropa nicht länger auf die Hilfe ihrer Bündnispartner angewiesen, wenn es um die Überwachung des regionalen Luftraumes geht. Das entlaste vor allem die USA, schreiben zwei Autoren der Denkfabrik Wilson Center in einer Analyse.
Von den nordischen Ländern ist Schwedens Luftwaffe die einzige, die den Kampfjet Gripen des schwedischen Herstellers Saab fliegt. Die anderen Staaten setzen auf amerikanische F-16- und F-35-Kampfflugzeuge. Schweden nimmt schon seit vielen Jahren an Nato-Manövern teil, vor allem die USA würde es aber begrüssen, wenn Schweden auf die US-Jets umsteigen würde. Für die schwedische Rüstungsindustrie wäre das allerdings ein herber Schlag – und von dieser profitiert nicht zuletzt die Nato.
3. Eine starke Rüstungsindustrie und seltene Erden
In Schweden werden nicht nur Gripen-Jets hergestellt, sondern auch der Schützenpanzer CV90, Flugabwehrsysteme, Schnellfeuerwaffen und Munition. Wie schnell in Europa die Munition knapp werden kann, zeigt der Krieg in der Ukraine. Schweden hat die Produktion bereits hochgefahren. In Karlskoga stellt die Firma Nammo rund um die Uhr 155-Millimeter-Granaten her. Dabei handelt es sich um das Standardkaliber der Nato-Artillerie – und jene Munition, die in der Ukraine im Moment am dringendsten benötigt wird.
Neben den Produktionsmöglichkeiten verfügt Schweden auch über technologisches Wissen und wichtige Rohstoffe. Es ist unter anderem die Heimat des Technologiekonzerns Ericsson, einem Anbieter von 5G-Mobilfunknetzen, und von Northvolt, einem der grössten Hersteller von Lithiumbatterien in Europa.
Im Januar 2023 meldete Schweden den in Europa bisher grössten Fund von seltenen Erden. Diese gelten als kritische Rohstoffe, deren Hauptlieferant heute China ist. Sie spielen nicht nur im Kampf gegen den Klimawandel eine wichtige Rolle, sondern sind auch für die Rüstungsindustrie von Bedeutung. So braucht zum Beispiel ein Kampfjet des Typs F-35 über 400 Kilogramm jener Materialien.
Die nahezu hundertprozentige Abhängigkeit von China stellt für die Nato ein hohes Versorgungsrisiko dar. Peking droht immer wieder damit, die Materialien als Druckmittel einzusetzen. Dank dem neuen Nato-Mitglied Schweden können sich die Alliierten zumindest teilweise aus dieser Abhängigkeit lösen.