Der Pegel des Bodensees schwanke seit je, sagen Experten. Menschen und Ökosysteme seien weitgehend darauf eingestellt, doch mittelfristig drohen andere, gravierendere Probleme.
Wie dramatisch die Situation am Bodensee derzeit ist, hängt von der Perspektive ab. Anfang Woche kursierten vielerorts Bilder von Booten, die an trockenen Anlegestellen liegen und von Schilfzonen, die sich nun etliche Meter vom Seeufer entfernt befinden. Das Schweizer Boulevardmedium «Watson» titelte darauf: «Der Bodensee trocknet aus». Doch Experten aus dem Gewässerschutz und der Archäologie reagieren zurückhaltend.
Thomas Blank, Leiter der Abteilung Wasserwirtschaft im österreichischen Vorarlberg und Geschäftsführer der Internationalen Gewässerschutzkommission für den Bodensee (IGKB), sagt: «Einen derart niedrigen Stand verzeichnen wir zu dieser Jahreszeit alle 15 bis 20 Jahre.» Die Situation sei für den Bodensee also relativ normal.
Auch Simone Benguerel vom Amt für Archäologie des Kantons Thurgau sagt: «Wir sind nicht alarmiert.» Die Bewohner der Bodenseeregion hätten sich schon vor Jahrhunderten auf wechselnde Pegelstände des Bodensees eingestellt und zum Beispiel im Winter tiefer gelegene Häfen und Anlegestellen genutzt.
Für die Zurückhaltung der Experten gibt es mehrere Erklärungen. Allerdings hängen sie – wenigstens teilweise – mit einer Entwicklung zusammen, die für den See mittelfristig tatsächlich problematisch werden könnte.
Trinkwasser für 5 Millionen Menschen
Der Bodensee ist mit 536 Quadratkilometern das grösste Binnengewässer Deutschlands sowie Österreichs und der flächenmässig zweitgrösste See der Schweiz. Wo genau die Grenze zwischen den drei Anrainerstaaten verläuft, ist bis heute nicht geklärt. Deshalb regeln die umliegenden Kantone und Bundesländer in verschiedenen Kommissionen, wie der See verwaltet wird. Wichtig ist das für den Gewässerschutz, die Fischerei und insbesondere für die Trinkwasserversorgung. Denn in Deutschland und der Schweiz versorgt der Bodensee rund 5 Millionen Menschen mit Trinkwasser.
Ausserdem wichtig sind der Gewässerschutz und ein genaues Monitoring der zu- beziehungsweise abfliessenden Wassermenge sowie der Temperaturen an der Oberfläche und in den tieferen Bereichen des Bodensees. Darüber tauschen sich die Behörden und Fachexperten der jeweiligen Länder in der IGKB regelmässig aus.
Thomas Blank, der gegenwärtige Geschäftsführer der IGKB, sagt auf Anfrage: «Der Pegel des Bodensees schwankt in erster Linie, weil er als einer der wenigen natürlichen Seen in Mitteleuropa nicht reguliert wird und der Abfluss in trockenen Perioden nicht gedrosselt werden kann.» Normalerweise bedeutet das: Wenn im Winter wenig Wasser über die Zuflüsse in den Bodensee strömt, sinkt der Wasserstand. Zwischen Höchst- und Tiefststand innerhalb eines Jahres liegen laut Blank rund 3,5 Meter. Blank sagt, der derzeitige Wasserstand bewege sich in diesem Bereich. Besonders sei, dass sich der tiefe Wasserstand in diesem Jahr nicht im Dezember oder Januar, sondern erst Anfang Frühling einstelle. Doch dafür gebe es eine simple Erklärung.
Wie Statistiken zeigen, gab es im Einzugsgebiet des Bodensees im Winterhalbjahr weniger Niederschläge als im Durchschnitt. In Vorarlberg, so Blank, waren es im laufenden Jahr 40 Prozent weniger als üblich. Blank sagt weiter, dass die Prognosen der Klimaforschung davon ausgehen, dass sich die Niederschläge bei konstanter Menge tendenziell vom Sommer- auf das Winterhalbjahr verschieben.
Die Trinkwasserversorgung ist durch die derzeitigen Wasserstände allerdings nicht gefährdet, da sich nach wie vor ausreichend Wasser im Seebecken befindet und es laut Blank ohnehin in einer Tiefe von rund 60 Metern entnommen wird. Ebenso gebe es keine negativen Auswirkungen auf das Ökosystem Bodensee. Allerdings liegen in flachen Uferzonen nun Schichten mit Schlick und organischen Materialien wie Pflanzenresten und abgestorbenen Weichtieren frei. Blank sagt: «Deshalb muffelt und stinkt es in manchen flachen Uferbereichen momentan.»
Der See erwärmt sich
Laut Philemon Diggelmann, Leiter der Abteilung Wasserbau und Hydrometrie in der Thurgauer Kantonsverwaltung, ist der niedrige Wasserstand für einzelne Tiere einschneidend. Der Hecht laiche normalerweise in Schilfzonen, die sich im seichten Bereich am Seeufer befinden. Weil viele dieser Zonen nun trocken sind, fehlen dem Hecht in diesem Jahr zahlreiche Laichplätze.
Weiter verweist Diggelmann auf eine Entwicklung, die für den See und seine Fauna noch gravierendere Folgen haben könnte als ein unangenehmer Geruch an den Ufern und weniger junge Hechte in diesem Jahr.
Wenn sich der See im Winter abkühlt und das Wasser sowohl an der Oberfläche wie auch in den tieferen Lagen dieselbe Temperatur erreicht, kommt es zu einer Zirkulation: Sauerstoffreiches Wasser dringt nach unten und nährstoffreiches nach oben. Normalerweise findet diese Umwälzung im Winter statt und bildet eine wichtige Voraussetzung für eine gesunde Seeökologie. Diggelmann sagt: «Wenn sich die Oberfläche des Sees in der kalten Jahreszeit zu wenig lang abkühlt, verkürzt sich diese Phase der Umwälzung, was mittelfristig dramatische Folgen haben kann.» Gemeint sind damit schlechtere Bedingungen für die Tier- und Pflanzenwelt im See, die sich auf die Bestände auswirken könnten.
Das Amt für Umwelt des Kantons Thurgau verfolgt diese Entwicklung mit einer Messboje, welche die Temperatur und den Sauerstoffgehalt an der tiefsten Stelle am südwestlichen Teil des Bodensees, dem Untersee, misst. Anfang April, so Diggelmann, kam es während rund zweier Tage zu einer solchen Zirkulation. Aus noch unbekannten Gründen brach die Umwälzung dann aber verfrüht zusammen.
Gegenwärtig sind die Wassertemperaturen an der Oberfläche laut Diggelmann eher höher als üblich. Die laufende Entwicklung verstärkt die allgemeine Tendenz zur Erwärmung der Seen. Problematisch ist das neben dem Ökosystem auch für Experten wie Diggelmann, denn sie haben keine Möglichkeit, diese Entwicklung zu beeinflussen.
Archäologen inspizieren das Ufer
Das Amt für Archäologie des Kantons Thurgau kann auf tiefe Wasserstände und klimatische Veränderungen im See reagieren. Seit den 1990er Jahren haben Archäologen bedeutende Fundstellen auf niedrige Wasserstände vorbereitet. Organische Spuren wie Pflanzenreste und Unrat von Mensch und Tier aus der Zeit der Pfahlbauer erhalten sich am besten, wenn sie dauerhaft feucht und unter einer Schicht von Sedimenten bedeckt sind und der Zersetzungsprozess damit aufgehalten wird. Wo diese Stellen durch Erosion und niedrige Wasserstände freigelegt wurden, haben sie Fachleute wie Simone Benguerel vom Amt für Archäologie mit einer Kiesschicht bedeckt und gesichert.
Solange der Wasserstand im Bodensee weiter tief ist, kontrollieren Benguerel und ihre Kollegen regelmässig, wie sich die Situation an den betroffenen Stellen verändert. Bisher, so Benguerel, sei aber alles in Ordnung. Experten gehen davon aus, dass der Wasserstand des Bodensees in den kommenden fünf bis sechs Tagen noch um einige Zentimeter sinken wird. Da sich in den Alpen aber noch Schnee befindet und im Frühjahr starke Niederschläge erwartet werden, sollte das Wasser im Verlauf der nächsten Woche wieder steigen. Spätestens dann können Benguerel und ihre Kollegen auch wieder auf ihre Inspektionen am Seeufer verzichten.