Die Jugend sei kaum patriotisch, mahnt ein führender chinesischer Intellektueller. Sie sei apolitisch, teilnahmslos und selbstbezogen. Für die Herrscher in Peking ist das ein Problem.
Als Zhang Weihao das Telefon abnimmt, sitzt er gerade im Bus. Reden könne er trotzdem, sagt er, es habe kaum Passagiere.
In China fahren eigentlich nur Rentner im Bus, weil es für sie gratis ist, und jene, die aufs Geld schauen. Zhang ist Anfang dreissig und arbeitslos. Er lebt von seinem Ersparten und der Unterstützung seiner Eltern. Er heisst eigentlich anders, möchte aber anonym bleiben.
Vor wenigen Jahren zog er der Liebe wegen von seinem Heimatort in Tianjin, einer Küstenstadt bei Peking, in den Süden nach Shenzhen. Die Liebe hat nicht gehalten, doch Zhang blieb. «Shenzhen ist internationaler, das gefällt mir», erzählt der junge Mann im Gespräch mit der NZZ. Zhang hat in Peking Deutsch studiert. Weit gereist ist er nicht – nur nach Hongkong und in Chinas Nachbarländer. Er hat sein ganzes Leben in China verbracht und will auch dort bleiben. Trotzdem kämpft er mit seiner Identität.
«Ich fühle mich auf eine Art staatenlos», schreibt er nach dem Gespräch per Chat-Nachricht. «Chinese sein, ich weiss gar nicht, was das ist.»
Zhang hat keine grossen Ansprüche ans Leben: ein Job, bei dem er anderen Menschen helfen kann und der seine Rechnungen zahlt. Eine Beziehung mit einer Frau, der er zutiefst vertraut. Beides hat noch nicht geklappt. Er sieht den Grund dafür bei sich und seinem familiären Hintergrund, nicht beim Staat. Und doch ist da Ernüchterung. «Ob ich zufrieden bin? Diese Frage stelle ich mir gar nicht. Keiner stellt sich diese Frage hier. Es gibt sie nicht», sagt er.
«Es ist, als würde ein grosses Schiff untergehen»
So wie Zhang Weihao geht es derzeit vielen jungen Leuten in China. Sie haben eine gute Ausbildung und haben hart gearbeitet, um ihre Ziele zu erreichen. Doch das vermeintliche Erfolgsrezept hat für sie nicht funktioniert.
Die Jugendarbeitslosigkeit in China lag im Februar bei fast 17 Prozent. Erfasst werden dabei alle 16- bis 24-Jährigen, allerdings nicht die, die noch an der Uni studieren. Im Juni 2023 war die Zahl auf über 21 Prozent geklettert. Kurz danach gab das chinesische Statistikamt bekannt, die Zahlen vorerst nicht mehr zu veröffentlichen und die Erfassung grundsätzlich zu überarbeiten. Die Arbeitslosigkeit in der Gesamtbevölkerung liegt offiziell bei 5 Prozent, doch sie dürfte höher sein. Chinas Wirtschaft schwächelt, viele Firmen entlassen Angestellte.
Manche sehnen sich zurück nach dem China vor den wirtschaftlichen Reformen, als der Staat die Arbeitsplätze und Wohnungen zuteilte und alle ungefähr gleich wenig verdienten. Manche aus Chinas junger Generation kennen das noch – aus der Erfahrung ihrer Eltern.
Doch nicht nur beruflich, auch im Privatleben läuft bei der jungen Generation vieles anders als bei ihren Eltern. Sie heiraten später oder gar nicht mehr, lassen sich öfter scheiden, die Geburtenrate sinkt.
Die unter 35-Jährigen in China seien ganz anders als ihre Vorgängergeneration, sagt der einflussreiche chinesische Historiker und Intellektuelle Xu Jilin. Im Februar hat er dem Forschungsinstitut der Tech-Firma Tencent ein langes Interview gegeben, das inzwischen zensiert wurde. Denn was er sagt, steht im Widerspruch zur Linie der Kommunistischen Partei, die schon kleinen Kindern Nationalstolz und staatliche Propaganda über den Lehrplan vermittelt.
Chinas Jugend habe kaum noch einen Bezug zum Sozialismus, sagt Xu. Ihr seien die Politik und das Schicksal ihrer Nation egal. Stattdessen hätten sie sich vollständig in ihre eigene kleine Welt zurückgezogen, entschieden nach persönlichem Nutzen und emotionalen Bedürfnissen. Ihr Leben sei von einem Gefühl der Leere und einer tiefen Langeweile geprägt. «Die heutige Jugend interessiert sich nicht für grosse Themen, die zu weit weg sind oder die sie nicht beeinflussen können.»
Das sei eine normale Reaktion auf die Unsicherheiten, die aufkämen, wenn junge Menschen ihr Land im Niedergang begriffen sähen, sagt Xu. «Es ist, als würde ein grosses Schiff untergehen. Jeder greift sich einen Rettungsring, springt über Bord und schwimmt in eine andere Richtung.»
Chinas Junge wollen vom Staat in Ruhe gelassen werden
Der junge Mann aus Tianjin, Zhang Weihao, ist mit seinem Bus am Bahnhof von Dongguan angekommen. Er schickt ein Handyfoto des Bahnhofs, über dem Eingang prangen auf einem rot-weissen Banner die Worte: «Haltet den Sozialismus chinesischer Prägung hoch, und strebt danach, ein modernes sozialistisches Land aufzubauen.» Die Rede von Sozialismus sei zu einer Art Show verkommen, sagt er am Telefon. Es sei eine Täuschung, bei der zwar jeder mitspiele, aber kaum jemand glaube noch daran. Später schreibt er, dass er sich nun mit Taoismus und Konfuzianismus beschäftige, um zu wissen, was ein Chinese sei. Er suche Antworten von vor 1949, also bevor die Kommunisten die Macht übernahmen.
Für Chinas Kommunistische Partei ist es kein Problem, wenn die jungen Leute nur so tun, als ob sie der Propaganda glauben würden. Das Lippenbekenntnis zählt – und die Akzeptanz ihrer Herrschaftsgewalt. Eine Generation, die jegliches Interesse an der Politik, der Nation, dem öffentlichen Leben und den grossen Themen verloren hat, begehrt seltener auf. Doch es gibt eine gewichtige Ausnahme.
Chinas junge Leute erwarten nicht viel von ihrer Regierung, aber sie wollen möglichst in Ruhe gelassen werden. Was passiert, wenn die Staatsgewalt die persönlichen Interessen der jungen Leute zu lange beschneidet, haben die Proteste in verschiedensten chinesischen Städten Ende des Jahres 2022 gezeigt. Damals forderten Hunderte ein Ende der strengen Null-Covid-Politik des Staats- und Parteichefs Xi Jinping. Die Polizei löste die Demonstrationen auf. Kurz darauf liess Xi alle Massnahmen fallen.