Die Terrortruppe hat Tausende Kämpfer, fast ihre gesamte Führungsriege und ihre Nachschublinien verloren. Doch die Islamisten werden versuchen, schon bald wieder aufzurüsten.
Bewaffnete Hamas-Kämpfer mit Sturmmasken und Sonnenbrillen haben Mühe, die aufgebrachte Menge von den drei jungen Frauen fernzuhalten. Als am Sonntagnachmittag die ersten israelischen Geiseln freikommen, demonstriert die Terrororganisation ihre Macht. Mit Kalaschnikows fahren ihre Kämpfer auf weissen Pick-up-Trucks durch Gaza. Umgeben von einer johlenden Menge lassen sie die freigelassenen Geiseln in einen Minibus des Internationalen Komitees des Roten Kreuzes einsteigen.
Monatelang hatten sich die Kämpfer der Terrororganisation vor allem unter Tage aufgehalten und waren nur für Angriffe aus dem Hinterhalt aus den Tunneln aufgetaucht. Doch am Sonntag, kurz nachdem die Waffenruhe in Kraft getreten war, markierten sie uniformiert auf den Strassen Präsenz. Gleichzeitig hat die Terrororganisation verkündet, dass sie Hunderte Polizisten im gesamten Küstenstreifen einsetzen werde, um «Sicherheit und Ordnung» aufrechtzuerhalten. Die Terroristen aus Gaza senden ein klares Signal nach innen und aussen: Auch nach fünfzehn Monaten Krieg beanspruchen sie die Macht für sich.
Für Michael Milshtein ist klar, was diese Bilder bedeuten: «Es gibt keinen ‹Tag danach› in Gaza», sagt der ehemalige Leiter der Palästinenserabteilung des israelischen Militärgeheimdiensts im Gespräch. «Die Hamas war und ist eine feste Grösse im Gazastreifen. Es gibt keine Alternative.» Seit 2007 kontrollieren die militanten Islamisten die Küstenenklave. Voraussichtlich wird sich daran in absehbarer Zeit nichts ändern – obwohl laut einer im Dezember durchgeführten Umfrage nur fünf Prozent der Menschen im Gazastreifen eine Hamas-Regierung unterstützen.
Israel hat sein Kriegsziel, die Hamas ein für alle Mal zu zerschlagen, nicht erreicht. Entscheidender ist allerdings die Frage: Hat die Terrororganisation die Möglichkeit, Israel noch einmal so tödlich zu überraschen wie am 7. Oktober 2023?
Die Hamas ist militärisch dezimiert
Laut den israelischen Streitkräften (IDF) soll die Hamas knapp 20 000 Kämpfer verloren haben. Israelische Sicherheitsexperten gehen davon aus, dass nahezu alle Raketenfabriken der Organisation zerstört sind. Schätzungsweise verfügen die Terroristen nur noch über wenige hundert Raketen. Allein am 7. Oktober hatte die Hamas laut eigenen Angaben 5000 Raketen auf Israel abgefeuert.
«Militärisch ist die Hamas erheblich geschwächt», sagt Eitan Shamir, Leiter des Begin-Sadat-Zentrums für strategische Studien, im Gespräch. «Vor dem Krieg konnte die Hamas Tausende Kämpfer mit einer funktionierenden Kommandostruktur über die Grenze schicken. Diese Fähigkeit existiert nicht mehr.» Die Hamas sei zwar immer noch in der Lage, in kleineren Guerillaeinheiten israelische Soldaten anzugreifen, doch eine grössere Offensive gegen Israel könne sie nicht mehr organisieren, sagt der israelische Militärexperte.
Im Rahmen der ersten Phase des Abkommens über eine Waffenruhe wird Israel seine Truppenpräsenz am sogenannten Philadelphi-Korridor an der ägyptischen Grenze zum Gazastreifen reduzieren und sich aus dem Netzarim-Korridor im Zentrum des Küstengebiets zurückziehen. Am Ende der zweiten Phase soll ein kompletter Abzug israelischer Truppen stehen. In Israel befürchten manche, dass es danach nur eine Frage der Zeit sei, bis die Hamas erneut eine militärische Gefahr darstelle.
Kann die Hamas alte Stärke wiedererlangen?
Es ist davon auszugehen, dass die Hamas schon bald zu alter personeller Stärke zurückkehren wird. Vor wenigen Tagen sagte der scheidende amerikanische Aussenminister Antony Blinken, dass die Hamas fast so viele neue Mitglieder habrekrutieren konnte, wie sie verloren habe. Eitan Shamir hält dies allerdings für vernachlässigbar. «Natürlich kann man einem 17-Jährigen eine Kalaschnikow in die Hand drücken und ihn zu einem Hamas-Kämpfer erklären», sagt der israelische Militärexperte. Doch diese neuen Kämpfer seien nicht mit den erfahrenen und gut ausgebildeten Terroristen zu vergleichen, die die Hamas am 7. Oktober ins Feld geschickt habe.
Die relevantere Frage ist, ob die Hamas künftig wieder aufrüsten kann. «In den ersten 42 Tagen der Waffenruhe wird es für sie sehr schwierig sein, ihre militärischen Fähigkeiten wiederaufzubauen», sagt Michael Milshtein. Die IDF würden es sofort bemerken, falls sie Waffen schmuggeln oder von einem Ort zu einem anderen transportieren würde. «Doch sobald israelische Soldaten nicht mehr am Philadelphi-Korridor sind, wird dort wieder ‹business as usual› herrschen», meint der Hamas-Experte.
Trotz den Schwierigkeiten bestehe kein Zweifel daran, dass die Islamisten versuchen würden, zu alter militärischer Stärke zurückzukehren, sagt Milshtein. «Wenn Hamas-Mitglieder morgens aufwachen, denken sie nicht darüber nach, ob sie ein neues Spital oder eine Schule bauen, sondern wo sie einen neuen Tunnel graben oder wie sie mehr Raketen produzieren können.»
Israel hat aus dem 7. Oktober gelernt
Jede israelische Regierung wird künftig alles dafür tun, die Hamas kleinzuhalten. Das Finanzierungssystem, mit dem die Hamas Hunderte Millionen Dollar aus Katar erhielt, wird es voraussichtlich nach dem Krieg nicht mehr geben. Ausserdem dürften die IDF die Situation im Gazastreifen sehr viel genauer beobachten, als dies vor dem Krieg der Fall war – und im Notfall mit aller Kraft zuschlagen: «Wir haben aus dem 7. Oktober gelernt», sagt Michael Milshtein. «Auf einen neuen Angriff werden wir nicht mit Zurückhaltung reagieren.»
Trotz der grossen militärischen Erfolge kann Israel vorerst keinen «totalen Sieg» verkünden, wie ihn Ministerpräsident Benjamin Netanyahu stets propagiert hat. Auch wenn die Hamas militärisch stark geschwächt ist, bleibt sie im Gazastreifen vorläufig an der Macht, wie die Bilder von Sonntag zeigen.
Milshtein geht nicht davon aus, dass im Rahmen der Verhandlungen eine alternative Regierung gefunden werden kann, etwa unter Führung der Palästinensischen Autonomiebehörde. «Das bedeutet, dass Gaza auch in Zukunft instabil bleiben wird», sagt er. «Ich denke, dass es leider nur eine Frage der Zeit ist, bis wir einen neuen Krieg haben werden.»
Jede israelische Regierung wird künftig alles dafür tun, die Hamas kleinzuhalten. Das Finanzierungssystem, mit dem die Hamas Hunderte Millionen Dollar aus Katar erhielt, wird es voraussichtlich nach dem Krieg nicht mehr geben. Ausserdem dürften die IDF die Situation im Gazastreifen sehr viel genauer beobachten, als dies vor dem Krieg der Fall war – und im Notfall mit aller Kraft zuschlagen: «Wir haben aus dem 7. Oktober gelernt», sagt Michael Milshtein. «Auf einen neuen Angriff werden wir nicht mit Zurückhaltung reagieren.»