Im Minutentakt bebt es zwischen den Vulkaninseln Santorin und Amorgos in der Ägäis. Die Bevölkerung ist angehalten, ins Freie zu gehen und sich von kleinen Häfen fernzuhalten. Die Schulen bleiben zu. Katastrophenschutzeinheiten bereiten sich auf das Schlimmste vor.
Auch in der Nacht auf Mittwoch ist die Seeregion zwischen Santorini und Amorgos von mehreren Beben der Stärke 4 und 4,3 erschüttert worden. Das teilte das Geodynamische Institut der Nationalen Sternwarte Athen mit. Seit Tagen bebt es zwischen den Vulkaninseln Santorin (griechisch Thira) und Amorgos in der Ägäis heftig. Das hat zu Panik unter den Einwohnern und massenhaften Fluchtbewegungen geführt. Rund 11 000 Personen hatten bis zum Mittwoch Santorin verlassen, wie griechische Medien melden.
Die bisher stärksten Beben waren am Dienstag verzeichnet worden. Am Dienstagmorgen um 4 Uhr 46 in der Region erreichte ein Beben zwischen den Kykladeninseln Santorin und Amorgos eine Stärke von 4,9 auf der Richter-Skala, das Epizentrum lag 21 Kilometer von Amorgos entfernt im Meer. 4,9 war bis dahin die höchste in den letzten drei Tagen gemessene Magnitude. Am Nachmittag wurde dies noch getoppt, als es auf Amorgos mit einer Stärke von 5 auf der Richter-Skala bebte. Dieses Beben war bis in die griechische Hauptstadt Athen spürbar. Insgesamt wurden seit Samstag 550 mittelschwere Beben mit einer Stärke zwischen 3 und 5 gezählt. Die vielen kleineren Beben in der Region sind da nicht eingerechnet.
Die Schulen auf den Inseln sowie auf Anafi bleiben noch bis mindestens Freitag dieser Woche geschlossen. Hotels begannen, ihre Pools zu entleeren, da die Wasserlast die Gebäude anfälliger macht. Seismologen befürchten, dass ein schweres Hauptbeben erst noch bevorsteht. Auch Vulkanausbrüche und Tsunamis sind nicht ausgeschlossen.
Die Menschen fliehen nach Athen und auf andere Inseln
Am Mittwoch will Griechenlands Ministerpräsident Kyriakos Mitsotakis sich in einer Regierungsansprache äussern. Die Regierung war am Dienstag zu einer Dringlichkeitssitzung zusammengekommen, um über die seismischen und vulkanischen Aktivitäten zu beraten, die in der Caldera-Region registriert wurden. Die Caldera ist ein vulkanischer Kessel, der sich bei einer Vulkaneruption vor 1600 Jahren vor Christus gebildet und mit Meerwasser gefüllt hatte. An den steilen Hängen der Caldera wurden in den letzten Jahrzehnten zahlreiche der charakteristischen weissen Häuser gebaut, die wie ein Touristenmagnet wirken. Aktuelle Videoaufnahmen zeigen, wie fallendes Geröll an den Steilhängen der vulkanischen Insel Santorin Staubwolken aufsteigen lässt. Am Montag schickten die Rettungsdienste eine Aufforderung an alle Einwohner von Santorin, die Gebiete von Ammoudi, Armeni und den Alten Hafen von Thira zu meiden, da Erdrutsche drohen.
Santorin zählt etwa 16 000 Einwohner, und die sind durchaus gewohnt, dass die Erde bebt. Einige der älteren Einwohner erinnern sich noch an die schweren Beben von 1956, bei denen Dutzende von Menschen ums Leben kamen. Auch Tsunamis gab es damals. Doch so viele Beben innerhalb weniger Tage, wie es derzeit der Fall ist, sind ungewöhnlich. Eine ältere Frau, die die Insel verlassen hat, sagte gegenüber griechischen Medien, dass die Situation schlimmer sei, als das Beben von 1956: «Das habe ich überlebt. Wir wurden zweimal richtig erschüttert und das war’s. Jetzt wird die Angst von Tag zu Tag grösser, man erwartet, dass die Klippen jeden Moment einstürzen.»
Rund 11 000 Einwohner hatten laut griechischen Medien Santorin bis zum Mittwochmorgen die Insel bereits verlassen. Die Menschen versuchen, Tickets für Fähren nach Athen oder auf andere Inseln zu ergattern. Die griechische Fluggesellschaft Aegean flog am Montag auf Geheiss des Ministeriums für Bürgerschutz Extraflüge, um Touristen und Einwohner in Sicherheit zu bringen. Auch am Dienstag fanden zahlreiche Sonderflüge statt. Vor den Ticketbüros im Hafen von Santorin drängen sich die Menschen, wie Berichte im griechischen Fernsehen zeigen.
Der Fernsehsender Skai zeigte Aufnahmen vom Hafen in Piräus, wo auch am Dienstag mehrere Fähren mit Passagieren aus Santorini anlegten. Bereits am Morgen kamen Hunderte von Personen an. Die Menschen hatten um Mitternacht eine Fähre, die von Kreta kam, bestiegen. Es handelt sich um Einheimische, darunter viele Familien mit Kindern, Arbeiter und Touristen. Viele, die keine Verwandten auf dem Festland haben, kommen nun zunächst einmal in Hotels unter, wo sie abwarten wollen, wie sich die Situation entwickelt.
Wer nicht flieht, übernachtet vorsichtshalber im Freien oder im Auto. Katastrophenschutzeinheiten sind auf die Insel beordert worden. Laut dem Sender ERT bereitet sich auch das Militär auf einen allfälligen Einsatz vor. Die staatliche Elektrizitätsgesellschaft hat grosse Generatoren auf die Insel transportieren lassen, die im Notfall Strom liefern können.
Auch auf Amorgos sind zusätzliche Feuerwehrfahrzeuge, Krankenwagen und Notstromgeneratoren eingetroffen. Die Insel ist dünner besiedelt als Santorin. Laut dem TV-Sender Skai fürchten die Einwohner vor allem einen möglichen Tsunami und weniger die Beben, da dort die Gebäude aus festem Stein gebaut sind.
Steht das Hauptbeben noch bevor?
Derweil rätseln die Wissenschafter darüber, was es mit der Erdbebenserie auf sich hat. Die Geologieprofessorin Evi Nomikou sagte dem privaten griechischen TV-Sender Skai: «Noch nie haben wir das Phänomen so vieler Erdbeben binnen so kurzer Zeit registriert.» Einige befürchten, dass ein Hauptbeben mit einer Magnitude von 6 oder mehr noch bevorsteht. Auch könnte durch das anhaltende Beben der Unterwasservulkan Kolumbo, der 7 Kilometer nordöstlich der Insel Santorin liegt, aktiviert werden. Bei der gewaltigen Eruption im Jahr 1650 kam es zu riesigen Schäden im gesamten östlichen Mittelmeerraum.
Efthymios Lekkas, Chef der Behörde für Erdbebenschutz, glaubt dennoch nicht, dass es zur Katastrophe kommt. Im staatlichen Rundfunk ERT sagte Lekkas, er hoffe, dass sich die aufgestaute seismische Energie in einem Beben der Stärke bis 5,5 entladen werde und danach Ruhe in der Region einkehre. Sichere Prognosen seien derzeit allerdings nicht möglich.
Akis Tselentis, Seismologieprofessor in Athen, warnte am Dienstag davor, sich in falscher Sicherheit zu wiegen. Die seismischen Aktivitäten hörten nicht auf, sondern verstärkten sich sogar noch, schrieb er in einem Post in den sozialen Netzwerken. Die gesamte Aktivität weise eindeutig die Merkmale einer fortlaufenden Sequenz auf, und je länger das Haupterdbeben ausbleibe, desto stärker werde es ausfallen.
Tselentis warnt in seinem Beitrag davor, dass ein baldiges Haupterdbeben wahrscheinlich sei und dass man dann in eine reine Nachbebenphase eintreten werde, die monatelang bis zum Sommer andauern könne. Dies werde dramatische Auswirkungen auf den Tourismus der Insel haben, die «nicht die besten baulichen Voraussetzungen» biete. Tselentis kritisiert, was in Griechenland ein offenes Geheimnis ist: Baugenehmigungen werden erteilt, die nicht erteilt werden sollten. So seien schwere Bauten wie Hotels mit Swimmingpools mit falschen Fundamenten an den Hängen am Meer errichtet worden, oberhalb der traditionellen Siedlungen.