Erstmals seit mehr als drei Jahrzehnten kann die Bundesrepublik vermelden, zwei Prozent ihres Bruttoinlandprodukts für die Verteidigung auszugeben. Damit erfüllt sie eine seit langem bestehende Nato-Vorgabe. Doch die Berechnung wirft Fragen auf.
Es war im September vor zehn Jahren in Wales, als die Nato-Staaten sich zum Handeln gezwungen sahen. Der russische Präsident Wladimir Putin hatte die Krim annektiert und führte Krieg im Donbass gegen die Ukraine. An dem Treffen der Allianz auf den britischen Inseln herrschte Einvernehmen darüber, dass die Einsatzfähigkeit der Bündnistruppen und die Verteidigungsausgaben erhöht werden müssten. Dabei geriet vor allem die zweitgrösste Volkswirtschaft unter den Nato-Staaten unter Druck. Deutschland sollte endlich einen Beitrag leisten, der seiner ökonomischen Stärke entsprach.
Die damalige Regierung unter Bundeskanzlerin Angela Merkel hatte sich bis zum Gipfel in Wales trotz dem russischen Angriff auf die Ukraine nicht eindeutig dazu bekannt, die vor allem von den Amerikanern und anderen Staaten geforderten Mindestausgaben für Verteidigung in Höhe von zwei Prozent des Bruttoinlandprodukts (BIP) mitzutragen. Das lag nicht zuletzt an Merkels Partner in der grossen Koalition, den Sozialdemokraten. Teile der Partei hielten noch immer an der Beschwichtigungspolitik gegenüber dem Kreml fest. Merkel aber wollte, dass die SPD die Gipfelbeschlüsse mitträgt.
Der damalige Aussenminister Frank-Walter Steinmeier von der SPD galt als Repräsentant des «Appeasement» gegenüber Russland. Bevor Merkel der Abschlusserklärung zustimmte, wollte sie explizit die Bestätigung Steinmeiers und schickte ihren Sicherheitsberater Christoph Heusgen, das Ja des Aussenministers einzuholen. Er habe ihn in den Wandelgängen des Konferenzzentrums erwischt und auf das Zwei-Prozent-Ziel angesprochen, berichtete Heusgen später. Steinmeier habe kurz gezögert, «um dann – wenig enthusiastisch – eine positive Antwort zu geben».
Die grosse deutsche Zwei-Prozent-Heuchelei
In der Nachbetrachtung dürfte das der Moment gewesen sein, in dem die grosse deutsche Zwei-Prozent-Heuchelei begann. Weder die von Merkel geführte Union noch die Sozialdemokraten machten in den Folgejahren ernsthafte Anstalten, die Zusagen von Wales zu erfüllen. Aus ihrer Sicht war schliesslich noch genug Zeit. Die Staaten hatten sich verpflichtet, spätestens 2024 die Zwei-Prozent-Marke zu erreichen.
Christlichdemokraten und Christlichsoziale verwiesen dabei gern auf die Sozialdemokraten, die sich in den jährlichen Haushaltsverhandlungen weigerten, die notwendigen Steigerungsraten durchzusetzen. Doch auch die Union gab das Geld lieber für den Sozialstaat, für die Flüchtlingsfinanzierung und – später – für Corona-Hilfen aus. Dabei war allen Seiten klar, dass sich die seit Jahrzehnten vernachlässigte Bundeswehr in einem desaströsen Zustand befand und nicht verteidigungsfähig war.
Das änderte sich auch dann nicht grundsätzlich, als der damalige US-Präsident Barack Obama bei einem Besuch Deutschlands im April 2016 die Bundeskanzlerin mit der Frage überraschte, ob sie bereit sei, 1000 Soldaten an die Ostgrenze der Nato zu verlegen. Ein «Stolperdraht», eine erste Verteidigungslinie gegen einen möglichen russischen Angriff, das sollten diese Truppen aus der Sicht von Obama sein. Nach kurzer Rücksprache mit Volker Wieker, dem damaligen obersten Soldaten und Generalinspekteur der Bundeswehr, sagte Merkel noch am selben Tag zu.
Die Sozialdemokraten blockieren
Doch es musste ein weiteres Jahr vergehen, ehe eine signifikante Veränderung eintrat. Wieder war es das Ergebnis einer Nato-Tagung, das die Deutschen zwang, sich zu bewegen. Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen von den Christlichdemokraten hatte bei einem Treffen in Brüssel zugesagt, bis 2031 drei Divisionen des Heeres sowie starke See- und Luftstreitkräfte voll ausgerüstet und einsatzbereit dem Bündnis zur Verteidigung gegen einen Angriff zur Verfügung zu stellen. Von der Leyens Militärplaner hatten ausgerechnet, dass dies mindestens 130 Milliarden Euro kosten würde.
Fortan sollte der deutsche Wehretat wieder steigen, allerdings nur in kleinen Schritten. Signifikante Erhöhungen waren mit den Sozialdemokraten noch immer nicht zu machen. Das blieb selbst dann so, als Donald Trump ins Weisse Haus einzog und an seinem ersten Nato-Gipfel im Mai 2017 in Brüssel heftige Kritik an den Staaten übte, deren Verteidigungsausgaben nicht das Zwei-Prozent-Ziel erfüllten.
Diese Vorwürfe wiederholte er während seiner vierjährigen Amtszeit mehrfach. Sie sorgten in Berlin immer wieder für heftige politische Debatten. Als Trump nun aber am vergangenen Wochenende drohte, im Fall seiner erneuten Präsidentschaft säumige Zahler nicht mehr verteidigen zu wollen, reagierte die Bundesregierung mit einem eindringlichen Appell zum Zusammenhalt im Nato-Bündnis. Das Zwei-Prozent-Thema aber spielte in der deutschen Reaktion keine Rolle mehr.
Etwa 82 Milliarden Euro für Verteidigung?
Der Grund hierfür ist, dass Deutschland aus der Sicht der Bundesregierung das Nato-Ziel nunmehr erfüllt. So hat sie es gerade nach Brüssel gemeldet – das erste Mal seit mehr als drei Jahrzehnten. Der Wert soll nahezu exakt bei zwei Prozent liegen. Wie hoch er in absoluten Zahlen ist, bleibt unklar.
Im vergangenen Jahr lag das deutsche Bruttoinlandprodukt bei etwa 4121 Milliarden Euro. Damals hätte die Regierung also zirka 82 Milliarden Euro für Verteidigung ausgeben müssen, um die Nato-Vorgabe zu erfüllen. Da für dieses Jahr nur ein geringes Wachstum erwartet wird, dürfte das BIP in absoluten Zahlen ähnlich ausfallen.
Nach wie vor liegt der reguläre (steuerfinanzierte) Verteidigungshaushalt bei gut 52 Milliarden Euro. Daraus finanziert die Bundeswehr vor allem ihre Personal- und Betriebsausgaben. Den grössten Teil der Kosten für neue Waffen und Munition entnimmt sie indes einem Parallelhaushalt, dem schuldenfinanzierten 100-Milliarden-Sondervermögen. Die Ausgaben hierfür sind in diesem Jahr mit knapp 20 Milliarden Euro veranschlagt. Das macht in Summe etwa 72 Milliarden Euro.
Interessant ist, wie sich der restliche Betrag zusammensetzt, der rund 10 Milliarden Euro ausmachen dürfte. Nach Angaben der oppositionellen Union rechnet die Bundesregierung die Zinsen für das kreditfinanzierte Sondervermögen sowie Ausgaben für Entwicklungshilfe und für Kriseninterventionsmittel des Auswärtigen Amts mit ein. Sogar die Pensionen für frühere Soldaten der Nationalen Volksarmee der DDR (NVA) sowie das Kindergeld für Bundeswehrbeschäftigte würden berücksichtigt. Die gesamte Auflistung der einzelnen Posten, aus denen sich die zwei Prozent errechnen, wolle die Bundesregierung trotz mehrfacher Aufforderung aber nicht offenlegen, heisst es in der Union.
Fraglich ist, inwiefern Pensionsausgaben für NVA-Soldaten die Verteidigungsfähigkeit Deutschlands erhöhen. Allerdings bemühen andere Nato-Staaten Tricksereien ähnlicher Art. Auch sie rechnen etwa Ausgaben für die Entwicklungshilfe oder für Pensionen mit ein. Nur dass es sich dabei häufig um Länder handelt, die das Zwei-Prozent-Ziel nicht gerade so, sondern weit übererfüllen.