Die wohlhabenden Vororte von Philadelphia sind über Jahrzehnte nach links gerückt. Donald Trump hat den Prozess noch beschleunigt. Die Demokraten rennen vor allem bei den Wählerinnen offene Türen ein.
Der amerikanische Traum lebt. Vielleicht nicht überall in den Vereinigten Staaten, aber sicherlich in den lauschigen Quartierstrassen rund um Media, den Hauptort des Delaware County in Pennsylvania. Stattliche Häuser thronen hier über gewundenen Wegen, gesäumt von ausladenden Rasenflächen und akkurat gepflegten Gärten, die noch die letzten Spuren von Halloween tragen: ein paar Spinnweben hier, ein, zwei Kürbisse dort.
Mächtige Eichen, Mammutbäume und Zierahorne leuchten in der goldenen Herbstsonne um die Wette. Manche Anwesen sind so weitläufig, sie nähmen unten in Philadelphia einen halben Block ein.
Diese wohlhabenden Viertel sind ein vielversprechender Jagdgrund für die Freiwilligen der Demokraten, die an diesem Montag noch einmal durch Philadelphias Vororte ziehen und an Tausende Türen klopfen. Überzeugen werden sie nur noch wenige. Jetzt geht es darum, all jene tatsächlich an die Urne zu bringen, die für Harris stimmen wollen.
«Kampf der Geschlechter»
Eine Mehrheit dieser Überzeugten sind Frauen. Vor dem «Trader Joe’s», einem bei der oberen Mittelschicht beliebten Lebensmittelgeschäft, ist die Stimmung an diesem Morgen eindeutig. «Ich stimme für Kamala», sagt Chelsea, die ihren Nachnamen nicht preisgeben möchte, sehr bestimmt. Sie habe sich schon lange entschieden, fügt die junge Frau an.
Sie ist nicht allein. Der Gender-Gap zwischen den Kandidaten ist grösser als je zuvor – so gross, dass manche amerikanischen Medien schon vom «Kampf der Geschlechter» sprechen. Gemäss einer Umfrage von Pew Research hat Kamala Harris unter Frauen einen Vorsprung auf Trump von 9 Prozent. Der liegt wiederum bei den Männern um 8 Prozent vorne.
Am stärksten schneidet Harris bei Frauen mit Hochschulabschluss ab – bei diesen liegt sie gar 27 Prozent vor Trump. Viele dieser Frauen wohnen in gut erschlossenen Vororten wie Media. Die wohlhabenden und bevölkerungsreichen «Collar»- oder zu Deutsch «Kragen»-Countys um Philadelphia herum sind deshalb enorm wichtig für die Harris-Kampagne. Hier und in den beiden Grossstädten Philadelphia und Pittsburgh muss sie einen grossen Vorsprung auf Trump herausholen, um die zu erwartende krachende Niederlage in den ländlichen Gebieten aufzufangen.
Dem war nicht immer so. Bis zur Ära von Ronald Reagan waren die Countys rund um Philadelphia republikanische Bastionen. Seither wandern sie zusehends nach links: George W. Bush war 2000 der erste Republikaner seit dem frühen 20. Jahrhundert, der Präsident wurde, ohne das Bucks, das Montgomery und das Delaware County für sich zu entscheiden. Donald Trump hat den Wandel nicht ausgelöst, nur akzentuiert.
Langjährige Anwohner sagen, dass der Hauptgrund für die Verschiebung der politischen Gewichte die Neuzuzüger seien. Im Unterschied zu den Stahl- und Kohlestädten und zu manch ländlichen Gebieten Pennsylvanias ist der Vorortgürtel von Philadelphia kontinuierlich gewachsen. Junge Familien verwirklichen sich hier ihren Wohntraum. Gutverdienende Ehepaare kaufen sich hier ein Haus im Grünen und arbeiten weiterhin in der Stadt.
Sorge um Nichten, Töchter, Enkelinnen
Und sie wählen Demokraten. Der wichtige Konsumentenstimmungsindex der Universität Michigan zeigt eine zunehmende Diskrepanz zwischen den Einkommensschichten: Die vermögenden Haushalte zeigen sich wieder zuversichtlicher, die ärmeren noch nicht. Das Argument von Donald Trump, dass er die Wirtschaft besser führen werde als Kamala Harris, fällt in Media daher auf weniger fruchtbaren Boden als anderswo.
Umgekehrt ist es bei der Abtreibungsfrage: In Pennsylvania findet hierzu keine parallele Abstimmung am Wahltag statt wie in den ebenfalls umkämpften Gliedstaaten Arizona und Nevada. Aber viele Bewohner von Media, und vor allem Bewohnerinnen, bringen das Thema im Gespräch ungefragt auf. Sie sorge sich um ihre zwei Grossnichten, sagt die 72-jährige Barbara Parris, die aus einem Nachbarort von Media stammt und am Montagmorgen im «Trader Joe’s» einen kleinen Einkauf erledigt hat. Parris wird für Harris und gegen Trump stimmen. «Ich will nicht, dass ein Mann über ihre Körper bestimmen kann.»
Donald Trump hat in seiner ersten Amtszeit für eine deutlich konservative Mehrheit am obersten Gerichtshof sorgen können. Das Gericht stiess vor zwei Jahren «Roe v. Wade» um, den berühmten Entscheid von 1973, der den Zugang zu Abtreibung in den USA über Jahrzehnte regelte. Der Supreme Court gab konservativen Gliedstaaten damit die Möglichkeit, das Recht auf Abtreibung stark einzuschränken, was sie auch taten.
Bei Frauen, nicht nur linken Frauen, ist der Kurswechsel sehr unbeliebt. Donald Trump hat versucht, das Thema auf Eis zu legen, ohne seine christlich-konservative Basis zu verärgern: Er will es den Gliedstaaten überlassen, wie restriktiv deren Abtreibungsgesetze sein sollen. Doch bleibt das Thema eine Achillesferse für die Republikaner.
In einer von den Demokraten intensiv verbreiteten Werbung fordert die Schauspielerin Julia Roberts Frauen zur Wahl von Kamala Harris auf. Die freundliche Musik kaschiert eine ernste Botschaft: «An dem einen Ort, wo Frauen noch immer das Recht haben, selbst zu entscheiden, kannst du so wählen, wie du willst – und niemand wird es je erfahren.» Das «noch immer» ist eine Erinnerung an «Roe v. Wade». Der Wahlclip ist vor allem an weisse Frauen gerichtet, deren Männer für Trump stimmen.
Der Ex-Präsident selbst reagierte bei «Fox & Friends», ausgestrahlt auf dem konservativen Fernsehsender Fox, verärgert über die Werbung: Er sei enttäuscht von Julia Roberts. «Die Ehefrauen und Ehemänner – ich glaube nicht, dass sie so damit umgehen. Können Sie sich vorstellen, dass eine Frau ihrem Mann nicht sagt, wen sie wählt? Haben Sie jemals so etwas gehört?»
Dutzende Gespräche, eine Stimme
Die demokratischen Freiwilligen ziehen derweil weiter durch die verborgenen Ecken von Media. Vielerorts ist niemand zu Hause – andernorts werden sie herzlich empfangen von überzeugten Demokraten, die schon genau wissen, wann und wo sie am Dienstag ihren Wahlzettel einwerfen werden.
Und doch stossen sie auch an diesem Morgen auf jemand besonders Wertvolles: Eine potenzielle Wählerin, die sich noch nicht entschieden hat. Viele Unentschlossene gibt es, so kurz vor den Wahlen, nicht mehr. Aber wenn jeder der unzähligen Freiwilligen, die übers Wochenende nach Pennsylvania geströmt sind, nur einen oder zwei von ihnen überzeugen kann, könnte dies den Ausschlag geben.
Die 38-jährige Samantha Johnston Twining hat indes Vorbehalte sowohl gegenüber Donald Trump als auch gegenüber Kamala Harris. «Könnt ihr mir einen Grund liefern, warum ich nicht Jill Stein wählen sollte?», fragt sie die Freiwilligen, während sie ihrer Bulldogge Carly kleine Leckereien zuwirft. Stein kandidiert für die kleine grüne Partei, könnte aber besonders Harris entscheidende Stimmen kosten.
Besonders missfällt Johnston Twining ein Teil der Aussenpolitik der Demokraten – und dass das Land eines Tages wieder in den Krieg ziehen könnte. «Ich habe einen Neffen, der 15 Jahre alt ist», sagt sie. «Er ist der perfekte Kandidat, den sie in den Krieg schicken würden.»
Sie hat zudem Zweifel bezüglich der Wirtschaftspolitik einer Harris-Administration; genauer zu der Frage, wer die wichtige Wettbewerbsaufsicht FTC leiten wird. «Unter der Biden-Administration hat Lina Khan als FTC-Chefin grossartige Arbeit geleistet», sagt sie. Harris habe aber noch nicht bestätigt, dass sie im Amt bleiben würde, das beunruhige sie. «Wir müssen auf dieser Schiene weitermachen und die grossen Unternehmen gut im Blick behalten. Meine Sorge ist, dass die Harris-Administration Khans Arbeit nicht fortführen würde.»
Trump-Wähler verstecken sich nicht
Die Freiwilligen der Demokraten in Media klopfen bei zahlreichen vom langen Wahlkampf erschöpften Bewohnerinnen und Bewohnern an. Anders als in anderen Regionen des Landes bleibt offene Aggression aber rar. Sie haben ein Heimspiel.
Es ist dabei nicht so, dass sich die Trump-Wähler verstecken würden. «Ich wähle Trump!», ruft eine jüngere Frau, die in einem SUV vorbeifährt, in Richtung des Grüppchens, das sich bei der demokratischen Parteizentrale an der Gayley Street im Zentrum von Media auf die Tür-zu-Tür-Kampagne vorbereitet. Dann ist noch etwas zu hören, was wie «Kommunismus» klingt, bevor der SUV auf die State Street abbiegt und entschwindet.
Die Freiwilligen treffen auch an den Türen vereinzelt auf Republikaner; es sind Ehemänner oder Töchter von Personen, welche die App der Demokraten als mögliche demokratische Wähler verzeichnet hat.
Die Gespräche enden meistens rasch. Es gibt wenig, was es am Vortag der Präsidentschaftswahl noch zu diskutieren gibt.