Bewegung oder Adrenalin verändern die Sehleistung – diese Erkenntnis können Athleten für sich nutzen. Eine bessere Wahrnehmung durch Sports-Vision-Training kann im Leistungssport den Unterschied machen.
Wie lange hat der Goalie bei einem Schuss Zeit, bevor er die Hände bewegt? Was nimmt er währenddessen wahr? Das ist eine Frage des Trainings.
Ein Teil von Pascal Abeggs Büro sieht aus wie eine Spielwiese für Sportbegeisterte. Der Boden besteht aus dämpfenden Matten, es liegen verschiedene Bälle herum, Tennisschläger, in der Mitte stehen Maschinen, die Tennis- und Pingpongbälle in einem vorgegebenen Rhythmus ausspucken können.
Pascal Abegg wirft Gabriel Wüthrich einen Tennisball zu, dieser hebt mit fast provozierender Langsamkeit und Lässigkeit die Hand und fängt den Ball. «Man hat viel länger Zeit zum Bewegen, als jeder denken würde, der im Spitzensport tätig ist», sagt Wüthrich, der frühere Super-League-Goalie und heutige Goalietrainer im FC Basel.
Die Demonstration zeigt auf einfachste Weise, worum es im «Labor» geht, wie Abegg seine kleine Spielwiese in seinem Unternehmen Sports Vision im Zürcher Kreis 8 nennt: um das Zusammenspiel von Augen, Hirn und Muskeln – und darum, wie veränderbar dieses ist.
Denn wie scharf wir sehen, ist nicht immer gleich. Die Sehleistung verändert sich, während wir uns bewegen, wenn unsere Muskeln angespannt sind, wenn wir unter Stress stehen wie ein Sportler im Wettkampf. Der Ball scheint plötzlich langsamer zu fliegen, das nächste Tor im Skirennen erfassen wir früher als im Training, auch die Wahrnehmung der eigenen Geschwindigkeit kann variieren. Die Basketball-Legende Michael Jordan hat bereits in den 1980er Jahren beschrieben, dass für ihn gewisse Phasen des Spiels wie in Zeitlupe ablaufen. Und mehr Zeit zu haben, ist in vielen Sportarten entscheidend.
Um diesen Effekt für sich zu nutzen, muss man trainieren. Die Kundschaft des Augenoptikers Abegg besteht zur Hälfte aus Spitzensportlern, der Rest sind Menschen mit Sehstörungen, Patienten mit funktionellen neurologischen Schwierigkeiten, aber auch mit multipler Sklerose oder Folgen von Schlaganfällen. Seit 25 Jahren arbeitet er in diesem Feld, vieles hat er per Zufall entdeckt, vieles durch Beobachten und Ausprobieren; Abegg arbeitet mit Wissenschaftern, Medizinern, Trainern und Therapeuten zusammen.
Manche, die zu Abegg kommen, sind beides: Spitzensportler und Patienten. Der ehemalige Skirennfahrer Mauro Caviezel arbeitete nach seinem Schädel-Hirn-Trauma mit diversen Therapien. Bei Abegg fand er Antworten, etwa darauf, weshalb er Mühe hatte beim Schattenwechsel oder beim Scharfstellen im Wechsel vom peripheren ins zentrale Sehen während des Skifahrens. Die Übungen dazu waren unspektakulär, aber auch ermüdend: Er musste mit den Augen Bällen folgen, diese fangen, ohne sie anzuschauen, oder Überkreuzübungen mit den Augen machen.
Mittlerweile ist dieses Training unter dem Begriff «Sports Vision» bekannt, einer Art der Optometrie, wie man das Tätigkeitsfeld nennt, das sich mit Fehlsichtigkeiten beschäftigt. Beim Sports-Vision-Training geht es um das optimale Zusammenspiel von peripherem und zentralem Sehen, also zwischen Orientieren und Fixieren, sowie Anspannen und Lösen. Diese Regulation von Aufmerksamkeit und Tonus wird durch ein Wahrnehmungstraining verbessert. Je besser die Koordination dieser Regulation funktioniert, desto besser performt der Athlet.
«Djokovic gilt als der beste Return-Spieler, und er bewegt sich später als alle anderen», sagt Abegg. Ein Tennisspieler hat im Idealfall die kleinstmöglichen Pupillen, also die grösste Aufmerksamkeit auf den Ball, und gleichzeitig die grösste Spannung im Arm in jenem Moment, in dem er den Ball trifft.
Ein weiteres Beispiel für die optimale Kombination von Aufmerksamkeit und Spannung: Abegg stellte eine Kamera so ein, dass er die Pupillen des Sportschützen Thomas Wüest filmen konnte, während dieser über ihn hinweg schoss. Obwohl Abegg die Zielscheibe nicht sehen konnte, wusste er, bei welchen Schüssen Wüest ins Schwarze getroffen hatte: dann nämlich, wenn die Pupille sich von gross (peripherer Blick) über klein (zentral – Fokus auf Ziel) auf die richtige Grösse dazwischen (man nimmt das Detail im Raum wahr) verengt hatte und der Schütze exakt diesen Moment für den Schuss genutzt hatte. Kennt man diesen Zusammenhang, kann man ihn für sich nutzen.
Aufgrund der Motorik der Pupillen wird das Training entwickelt
Wenn Abegg neu mit einem Sportler zusammenarbeitet, drückt er ihm eine Schnur mit drei Kugeln in die Hand und lässt ihn Übungen damit machen. Diese nutzt er als ein diagnostisches Mittel: Anhand des Musters der Pupillomotorik kann er erkennen, wie der Sportler funktioniert, bei welcher Bewegung sich etwas verändert und wo er mit dem Training ansetzen muss. Meist kann er allein aufgrund der Pupillomotorik feststellen, ob er einen Mittelfeldspieler vor sich hat, bei dem vor allem das periphere Sehen ausgeprägt ist, oder einen Goalgetter, der vor dem Tor den Tunnelblick hat.
Entscheidend ist präzises, schnelles Wahrnehmen für Fussball-Goalies. Hervorragende Reflexe hat jeder, der auf gutem Niveau im Tor steht. Aber den Reflex zu kontrollieren und die Ruhe zu behalten, sei harte Arbeit. Gabriel Wüthrich ist erstmals mit dieser Art von Training in Kontakt gekommen, als er Goalie beim FC Luzern war. Der Coach Murat Yakin organisierte einen Testtag in einem Trainingszentrum mit der Idee, interdisziplinäre Trainingsmethoden auszuprobieren.
Wüthrich spürte den Effekt schnell: «Die Zeit hat sich gefühlt verändert. Ich konnte plötzlich mit ihr spielen: Wie lange kann ich warten und doch noch steuern, wohin ich den Ball lenke?» Die Kontrolle über den Reflex gibt dem Goalie mehr Zeit, um sich zu orientieren und zu handeln. Das verunsichert einerseits den Schützen, andererseits hat der Goalie mehr Möglichkeiten zur Abwehr. Wann kann ich meine Aufmerksamkeit verlegen? Wo ist mein Körper im Raum? Wie viel Spannung brauche ich jetzt in meiner Hand?
Das Wahrnehmungstraining baut Wüthrich in jedes Goalietraining ein. Er hat durch die langjährige Beschäftigung mit dem Thema gelernt, seine Goalies genau zu beobachten, und kann so an den Defiziten arbeiten.
Die Übungen müssen nicht unmittelbar vor einem Wettkampf praktiziert werden, sie zeigen bei regelmässigem Training langfristig Wirkung. Das sei wie beim Zitroneneffekt, sagt Abegg: Irgendwann muss man nicht mehr in die saure Zitrone beissen, um den Speichelfluss anzuregen. Die Erinnerung daran reicht. Es sei eine Art «Nervensystem-Hack», denn es gehe um die Kontrolle des Nervensystems, nicht um jene der Augen. Diese sind aber ein direkter Zugang zum vegetativen Nervensystem.
«Nur mit Augenübungen wirst du nicht zu Usain Bolt»
Viele Spitzenathleten nutzen das Training als weiteres Puzzleteilchen auf dem Weg zum Erfolg. Den Effekt spürt man schnell, eine exakte Wissenschaft aus dem Trainingslehrbuch ist es aber nicht. «Es braucht schon eine gewisse Offenheit, sich darauf einzulassen», sagt Wüthrich. «Jeder muss für sich abwägen: Wie viel bin ich bereit, zu investieren, um alles herauszuholen? Nur mit Augenübungen wirst du nicht zu Usain Bolt.»
Abegg darf seine derzeitige Klientel nicht nennen. Einige wollen den Konkurrenten nicht ihr Erfolgsrezept verraten, andere fürchten, das Augentraining werde ihnen als Schwäche ausgelegt. Deswegen ein Blick zurück: Der Skispringer Andreas Küttel schielte leicht, wenn er stark nach oben schauen musste wie in der Hocke-Position auf dem Schanzentisch. Zudem sah er unter Wettkampfbedingungen schärfer. Beides beeinflusste den Absprungszeitpunkt.
Durch das Training von Blicksteuerung, Augenkoordination, Adaption und durch Blickstrategien gelang es Küttel schliesslich, den optimalen Moment für den Absprung zu finden.
Eindrücklich ist, wie schnell man erste Effekte spürt: Bereits nach einer fünfminütigen Übung mit Bällen, die man auf dem Rücken liegend aus unterschiedlicher Fallhöhe fangen muss, erreicht man unter Abeggs Anleitung eine Verbesserung, kann die Hand langsamer heben und den Ball dennoch fangen. Schneller wahrnehmen und richtig handeln – ein Zeitgewinn, der im Leistungssport den Unterschied ausmachen kann.