Einblicke in die Mathematik der geplanten Schutzklausel zur Personenfreizügigkeit.
Für die SVP ist jetzt schon alles klar: Die Schutzklausel zur Zuwanderung aus der EU, die der Bundesrat am Mittwoch präsentiert hat, bringt rein gar nichts. Die Parteispitze hat die Vorschläge des zuständigen Bundesrats Beat Jans am Donnerstag scharf kritisiert. Alles andere wäre auch erstaunlich. Die einzige «Schutzklausel» zur Personenfreizügigkeit, welche die SVP akzeptieren würde, bestünde wohl in deren Kündigung.
Weniger vorbestimmt ist das Urteil anderer Parteien. Vor allem FDP und Mitte halten sich auffällig zurück. Das hat wohl nicht nur politische Gründe. Die neue Schutzklausel ist nichts für schwache Nerven. Mit seiner Kreation mutet der Bundesrat Parlament und Volk einiges zu – konzeptionell, vor allem aber auch mathematisch.
Im Zentrum stehen vier Schwellenwerte zu Zuwanderung, Sozialhilfe, Arbeitslosigkeit und Grenzgängern. Wird ein einziger dieser Werte überschritten, muss der Bundesrat die Aktivierung der Schutzklausel prüfen. Somit hängt ihr Effekt von der Definition der Schwellenwerte ab. Auch dazu liegen konkrete Ideen vor, die das Staatssekretariat für Migration (SEM) am Mittwoch auf Nachfrage offenlegte.
Zweite Stelle hinter dem Komma kann entscheiden
Spannend ist der Schwellenwert zur Zuwanderung – vor allem, weil er schön zeigt, mit wie viel mathematischer Phantasie die Klausel aufgebaut wurde. Kurze Version: Der Schwellenwert bezieht sich auf den Wanderungssaldo aus der EU (Einwanderungen minus Auswanderungen) und liegt bei 0,74 Prozent. Längere Version: Der Schwellenwert ist überschritten, wenn der Wanderungssaldo aus der EU im Verlauf eines Jahres mehr als 0,74 Prozent der ständigen Bevölkerung am Anfang dieses Jahres ausmacht.
Diese Definition sorgte bereits an der Medienkonferenz von Bundesrat Jans für Kopfzerbrechen und verzweifelte Blicke. Der Schwellenwert ist nicht nur kompliziert, er passt auch nicht ganz zu den Angaben des SEM: Demnach wird der Schwellenwert «anhand einer ausserordentlichen Zunahme» der Zuwanderung gemessen. So wie er nun definiert ist, scheint es indes nur auf das einzelne Jahr anzukommen.
Eines kann man dem Bundesrat aber sicher nicht vorwerfen: Er will die Schwellenwerte nicht so hoch ansetzen, dass sie nie erreicht werden. Der Wert von 0,74 Prozent wäre seit Einführung der Personenfreizügigkeit 2002 zweimal erreicht worden: 2008 mit 0,9 und 2013 mit 0,8 Prozent. Dies sind die Jahre, in denen unter dem Strich am meisten Personen aus der EU zugezogen sind.
Allerdings ist das nicht ganz korrekt: 2023 war der Wanderungssaldo grösser als 2013. Trotzdem wäre der Schwellenwert knapp nicht erreicht worden. Das liegt daran, dass die Bevölkerung gewachsen ist. Der Wert ist so definiert, dass er umso mehr Zuwanderung erlaubt, je grösser die Bevölkerung ist. Zum anderen ist die Höhe des Schwellenwerts zentral: Läge dieser schon nur bei 0,7 statt 0,74 Prozent, wäre er bereits fünfmal erreicht worden – unter anderem 2023. Definitiv entscheiden über die Schwellenwerte wird der Bundesrat.
Bundesrat müsste sich jedes Mal erklären
Auch die anderen drei Schwellenwerte sollen so festgelegt werden, dass sie mehrmals erreicht worden wären. Konzeptionell sind auch sie nicht ganz banal:
- Grenzgänger: Nimmt ihre Anzahl in einem Jahr im Verhältnis zur Anzahl aller Beschäftigten um über 0,34 Prozent zu, ist der Schwellenwert erreicht.
- Arbeitslosigkeit: Nimmt die Arbeitslosenquote der gesamten Bevölkerung von einem Jahr auf das andere um 30 Prozent zu – zum Beispiel also von 2 auf 2,6 Prozent –, ist der Schwellenwert erreicht.
- Sozialhilfe: Nimmt die Zahl der EU-Bürger mit Sozialhilfe von einem Jahr auf das andere um 12 Prozent zu, ist der Schwellenwert erreicht. Dies ist der einzige Wert, der noch nie erreicht wurde.
Die Schwellenwerte werden noch zu reden geben. Auch wenn sie erreicht werden, muss der Bundesrat die Schutzklausel nicht unbedingt auslösen. Er muss es nur prüfen. Doch schon dies würde die Migrationsdebatte verändern, weil er den Verzicht auf weitere Schritte begründen müsste.