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Um den Krieg zu finanzieren, muss die Ukraine Agrargüter exportieren. Das führt in Europa zu Bauernprotesten. Das wahre Problem der Bauern ist aber nicht die Ukraine, sondern die Konkurrenz aus Russland.
Es sei ein guter Tag für die Ukraine, sagte die EU-Kommissions-Präsidentin Ursula von der Leyen am Mittwoch zum ukrainischen Ministerpräsidenten Denis Schmihal in Brüssel. Die EU hatte dem kriegsgeplagten Land soeben die erste Tranche von 4,5 Milliarden Euro eines Hilfsprogramms von 50 Milliarden Euro überwiesen.
Die Ukrainer waren allerdings bei weitem nicht so euphorisch gestimmt wie von der Leyen. Fast gleichzeitig hatten die Mitgliedsländer (der Rat) und das EU-Parlament nämlich beschlossen, dass gewisse ukrainische Agrargüter unter Umständen wieder mit Zöllen belegt werden können: Fällig werden sie etwa auf Honig, Zucker, Geflügel und Eier, wenn deren Einfuhren den Durchschnitt der Volumen von 2022 und 2023 übersteigen.
«Wir sind über diese Massnahme nicht glücklich», sagt ein ukrainischer Agrarmanager mit guten Beziehungen zur Regierung. Man habe ihr aber zugestimmt, um die Lage in der EU zu beruhigen.
Die Politiker fürchten die Bauern
Ob das gelingt, ist allerdings fraglich. Bereits fordern europäische EU-Politiker weitergehende Massnahmen. «Es ist bedauerlich, dass Weizen nicht in die Vereinbarung aufgenommen worden ist», sagt etwa Norbert Lins, der Vorsitzende des Agrarausschusses des EU-Parlaments.
Europas Politiker haben Angst vor der politischen Macht der Bauern, zumal im Juni die Wahlen zum EU-Parlament stattfinden. Zwar arbeiten nur noch wenige Beschäftigte in der Landwirtschaft. In der Bevölkerung geniessen die Bauern aber grosse Sympathien. Die Politiker der politischen Mitte befürchten deshalb, Stimmen an rechte, gegenüber der EU kritisch eingestellte Parteien zu verlieren.
Seit Wochen demonstrieren die Bauern in vielen Ländern Europas gegen die Landwirtschaftspolitik des Staatenbundes. Die Pläne der Kommission, die Branche umweltfreundlicher auszurichten, gehen ihnen zu weit. Gleichzeitig fühlen sich die Bauern von der meist sehr effizient produzierenden ukrainischen Landwirtschaft bedrängt. Die Bauern in Polen etwa bewirtschaften im Durchschnitt 11 Hektaren. In der Ukraine dagegen gibt es Agrarfirmen mit bis zu 200 000 Hektaren Ackerfläche.
Diese Grössenvorteile können die Betriebe ausspielen, seitdem die EU im Juni 2022 alle Einfuhrzölle auf ukrainischen Agrarprodukten aufgehoben hat. Damit will sie das auch wirtschaftlich taumelnde Land unterstützen. Um den Krieg gegen Russland mitzufinanzieren, ist Kiew dringend auf die Devisen des Agrargeschäfts angewiesen. Im vergangenen Jahr stammten immerhin 63 Prozent der ukrainischen Exporteinnahmen aus der Landwirtschaft.
Doch seitdem die EU alle Einfuhrzölle abgeschafft hat, herrscht unter Europas Bauen Aufruhr. Besonders heftig protestieren die Landwirte in Polen, einem Nachbarstaat der Ukraine. Sie glauben, die Ukraine flute ihren Heimmarkt mit Agrarerzeugnissen. Die Politiker können die Wut der Landwirte nicht ignorieren, denn im April finden im Land Kommunalwahlen statt.
Ukrainische Agrarvertreter wehren sich derweil gegen die polnischen Anschuldigungen. «Weizen über den Landweg via Polen ins Ausland zu exportieren, ist zu teuer geworden», sagt Alex Lisizja, der Chef des Agrarunternehmens IMC. Mit der Route über das Schwarze Meer stehe eine verhältnismässig günstige Alternativroute zur Verfügung. Jüngst hat die Ukraine ungefähr 6 Millionen Tonnen Getreide pro Monat exportiert, nur etwa 5 Prozent davon kamen via den Landweg über Polen auf den Weltmarkt.
Russland macht sich am Weizenmarkt breit
Während die EU von der Agrardiskussion gelähmt ist, hat sie übersehen, dass es am Weizenmarkt zu einer Entwicklung mit Sprengkraft gekommen ist: Russland ist dort zum wichtigsten Akteur geworden. Manche sagen, Präsident Wladimir Putin forciere die Weizenexporte mit dem einzigen Ziel, die Ukraine vom Weltmarkt zu verdrängen.
Tatsächlich exportiert Russland derzeit sehr grosse Mengen. Das amerikanische Landwirtschaftsministerium schätzt, dass das Land von Juni 2023 bis Juni 2024 rund 50 Millionen Tonnen Weizen ausführen werde. Damit wäre Russland der weltweit grösste Exporteur mit einem Handelsanteil von fast 25 Prozent.
Ob dahinter ein strategischer Plan Putins steht, weiss niemand. Zupass kamen ihm aber die Wetterverhältnisse. In den vergangenen drei Jahren sind sie für Russland und die Ukraine sehr günstig gewesen, so dass die Landwirte hohe Ernten einfuhren. Gute Erträge haben jüngst auch die lateinamerikanischen Grossproduzenten erzielt. Nun sind die Bauern gezwungen, Weizen auf den Markt zu werfen, um in den Silos Platz zu schaffen für die nächste, möglicherweise erneut üppige Ernte. All dies setzt den Markt unter Druck.
Damit hat sich die Lage im Weizengeschäft komplett verändert. Als die Ukraine im Frühsommer 2022 keinen Weizen mehr über das Schwarze Meer exportieren konnte, trieb Panik den Preis auf 430 Dollar pro Tonne. Viele malten damals das Schreckgespenst einer globalen Hungerkrise an die Wand. Davon ist heute keine Rede mehr. Der Weizenpreis hat sich seither ungefähr halbiert. Das und nicht die ukrainische Agrarwirtschaft setzt Europas Landwirte in erster Linie zu.
Eine Beruhigungspille für die Bauern
Für die EU-Kommission ist trotzdem eine heikle Lage entstanden. Sie ist die Hüterin des Freihandels mit der Ukraine und sieht die Handelspolitik generell als ihre Domäne an. Gleichzeitig kann sie den politischen Druck, dem die Regierungen der Mitgliedsländer ausgesetzt sind, nicht ignorieren.
Am Freitag gab sie daher bekannt, Zölle auf Getreide und Ölsaaten aus Russland sowie Weissrussland einzuführen. Diese Produkte sind nicht mit Sanktionen belegt. Russland hat 2023 mit deren Export in die EU rund 1,3 Milliarden Euro eingenommen.
Die Zölle seien hoch genug, um die Importe zu unterbinden, meint die Kommission. Die Angebotslücke sollen Drittstaaten füllen wie Brasilien, die USA und die Ukraine, aber ausdrücklich auch die Landwirte aus der EU. Die neuen Zölle sind also gleichzeitig eine Art kostenloses Hilfspaket für die Ukraine und eine Beruhigungspille für die heimische Landwirtschaft.
Die Sorgen der Ukrainer bleiben trotzdem gross. «Wir benötigen mehr Rechtssicherheit, um Investitionen zu tätigen», sagt Lisizja von IMC. Der Manager spielt damit auf den Umstand an, dass die EU der Ukraine den kompletten Freihandel jeweils für nur zwölf Monate gewährt.
Im schlimmsten Fall wird der politische Druck in der EU so gross, dass auch Weizen mit einem Kontingent oder mit Zöllen belegt wird. Dann entstünde die paradoxe Lage, dass die EU die Ukraine zwar mit Geld unterstützt, sie aber dabei behindert, selber möglichst hohe Einnahmen zu machen. So würde das Land noch mehr zum Almosenempfänger.