Bei den vorgezogenen Parlamentswahlen vom 10. März erwartet man einen Rechtsrutsch. Die rechtspopulistische Chega-Partei dürfte drittstärkste Kraft werden.
Wer in früheren Jahren noch das verträumte, romantische Lissabon erlebt hat, erkennt es inzwischen kaum wieder. Portugals Hauptstadt hat sich in den letzten Jahren zu einer neuen europäischen Top-Destination entwickelt. Die ruhige und gelassene Stimmung von einst ist verflogen, Heerscharen von Touristen drängen sich tagtäglich durch die engen Gassen der Altstadt und erschweren den Anwohnern den Alltag. An den Haltestellen des in allen Reiseführern empfohlenen historischen Trams 28, das die alten Stadtviertel wie Alfama, Baixa oder Estrela durchquert, stehen die Besucher stundenlang in einer langen Schlange, um einen Platz zu ergattern, oftmals vergebens. Dabei hat die eigentliche Touristensaison noch nicht einmal begonnen.
«Das Leben in Lissabon ist anstrengender und viel teurer geworden», sagt der portugiesische Soziologe und Geschichtswissenschafter António Pinto, der am Institut für Sozialwissenschaften der Universität Lissabon lehrt. «Es ist kein Wunder, dass Politikverdrossenheit herrscht und viele Wähler ihren alten Parteien nicht mehr treu bleiben.» Davon profitiert besonders die rechtspopulistische Partei Chega, die erst 2019 erstmals ein Mandat im Parlament errang und bei den letzten Wahlen im Jahr 2022 bereits 7,2 Prozent der Stimmen erzielte. «Lange waren wir in Europa eine Ausnahme, weil wir keine rechtsextreme Partei im Parlament hatten», so Pinto. Aber laut den Umfragen dürfte Chega diesmal auf 15 bis 20 Prozent kommen.
Streikwelle im ganzen Land
«Es wäre ein Fehler, diese Partei zu unterschätzen, der Chega-Chef André Ventura hat ein sehr gutes Auftreten und spricht viele junge Leute an, vor allem Männer», so Pinto. Aus diesem Grunde wirbt Chega auch auf dem Universitätscampus um Stimmen. Die Partei verspricht eine «grundlegende Säuberung». Ihr Plakat richtet sich gegen Migranten und die etablierten Politiker, denen sie Inkompetenz und Korruption vorwirft. Auch dagegen, dass immer mehr reiche Zuwanderer aus Nordeuropa nicht nur steuerliche Vorteile geniessen, sondern auch den Wohnungsmarkt aufmischen und die Miet- und Immobilienpreise in die Höhe treiben.
Der Lärm von Flugzeugen über dem Campus, die im Eineinhalb-Minuten-Takt neue Touristen aus dem Ausland einfliegen, erschwert die Konversation. «Unsere Politiker haben es in fünfzig Jahren nicht geschafft, sich über den Ort für den Bau eines neuen Flughafens ausserhalb der Stadt zu einigen», sagt Pinto und lacht.
Vielen Portugiesen ist dieser Tage allerdings nicht zum Lachen zumute, schon lange haben sich die auch hierzulande stark gestiegenen Lebenshaltungskosten von den Gehältern abgekoppelt. Seit über einem Jahr wird das kleine Land von eine Streikwelle überrollt. Mal protestieren die Lehrpersonen, deren Gehälter seit der Pandemie eingefroren sind, mal die Eisenbahner, weil auch sie vom wirtschaftlichen Erfolg des Landes nichts mitbekommen. Sie verärgert, dass der Staat sie nicht beachtet, aber gleichzeitig eine neue Hochgeschwindigkeitsstrecke zwischen Lissabon und Porto plant, die fünf Milliarden Euro kosten wird.
In Porto gingen Ende Januar 20 000 Polizisten auf die Strasse, weil ihnen die Regierung keine Lohnerhöhung gewährt hatte. Junge Ärzte und Ingenieure sind rar geworden. Die meisten von ihnen wandern ins Ausland ab, wo sie mehr als doppelt so viel verdienen. Darunter leidet das Gesundheitswesen. Es wird immer schwieriger, einen Termin beim Arzt zu bekommen. In Lissabon oder an der Algarve mussten schon mehrmals die Notaufnahmen geschlossen werden, weil nicht genügend Personal zur Verfügung stand.
Der Regierungschef Costa tritt nicht mehr an
Am 10. März sind rund 10,8 Millionen Wahlberechtigte zu den Urnen gerufen. Es handelt sich um vorgezogene Wahlen. Sie wurden nötig, weil der sozialistische Regierungschef António Costa im vergangenen November zurückgetreten ist. «Ich habe ein reines Gewissen, aber die Position des Regierungschefs ist nicht mit dem Verdacht auf einen Straftatbestand vereinbar», so Costa damals. Die Staatsanwaltschaft hatte gegen eine Reihe von Personen, unter ihnen auch Costas Kabinettschef, wegen des Verdachts auf Korruption und Vetternwirtschaft Ermittlungen eingeleitet und prompt Geld in dessen Büro gefunden.
Die Staatsanwaltschaft untersuchte auch, ob bei der Vergabe von staatlichen Aufträgen für ein Datenzentrum sowie Lithium- und Wasserstoffprojekte Bestechungsgelder geflossen waren. Angeblich fiel auch Costas Name, später stellte sich heraus, dass dies ein Fehler bei der Transkription eines Abhörprotokolls war. Nicht der Regierungschef war gemeint, sondern sein Wirtschaftsminister António Costa Silva. Dennoch wird Costa nicht mehr antreten.
«Portugals klassische Linke hat ein demografisches Problem, ihre Wähler werden immer älter und sterben langsam weg», bilanziert der Meinungsforscher Ricardo Reis, der an der Katholischen Universität von Lissabon lehrt. Besonders hart trifft es die Kommunisten. Nach der Nelkenrevolution und dem Übergang zur Demokratie vor fünfzig Jahren hätten sie noch 16 Prozent der Stimmen erreicht, jetzt könnten sie froh sein, wenn sie noch auf 2 Prozent kämen, so Reis. Aber auch die Sozialisten dürften laut den Umfragen bei den Wahlen ihre absolute Mehrheit verlieren, die sie mit dem charismatischen Costa an der Spitze 2022 errungen hatten.
Neuer Spitzenkandidat des Partido Socialista (PS) ist der 46-jährige Pedro Nuno Santos, der im Kabinett von Costa Transportminister war. Er musste allerdings vor einem Jahr zurücktreten, weil er der Verwaltungsratspräsidentin der angeschlagenen staatlichen Fluggesellschaft TAP eine allzu grosszügige Abfindung gegeben hatte, während im Zuge der Sanierung viele TAP-Mitarbeiter ihren Job verloren. Seine Karriere schien am Ende, doch nicht zuletzt wegen seiner jugendlichen Erscheinung sprachen ihm die Sozialisten bei einem Sonderparteitag kurz vor Ende letzten Jahres ihr Vertrauen aus.
Konservative Wahlplattform liegt vorne
Bei den jüngsten Umfragen liegt mittlerweile der konservative Kandidat Luis Montenegro vom bürgerlichen Partido Social Democrata (PSD) knapp vorne. Anfangs hatte noch Nuno Santos einen leichten Vorsprung gehabt. Doch Santos’ potenzielle Verbündete, die Grünen und die Kommunisten, bringen es nur auf etwa 8 Prozent. Die Konservativen treten mit der Wahlplattform Aliança Democrática (AD) an, zu der neben der PSD auch die christlichdemokratische CDS-PP zählt. Gemeinsam haben sie unlängst bei den jüngsten Regionalwahlen auf den Azoren gewonnen. Doch auf dem Festland ist die Lage weniger klar. Laut Umfragen werden weder das linke noch das konservative Lager angesichts der Stärke von Chega eine absolute Mehrheit erzielen können. Montenegro hat im Falle eines Wahlsiegs seiner Plattform eine Koalition mit Chega allerdings bereits kategorisch ausgeschlossen.
Die Rechtspopulisten profitieren derweil von den Korruptionsskandalen bei den beiden grossen Parteien. «Jeder neue Fall bringt Chega 2 Prozent mehr Stimmen», so Reis. Derzeit zahlen die Sozialisten ihren Tribut für die gerichtliche Aufarbeitung einer Altlast. José Sócrates, ihrem früheren Ministerpräsidenten (2005 bis 2011), wird der Prozess gemacht, weil er während seiner Amtszeit ein Vermögen von 34 Millionen Euro angehäuft haben soll. Die PSD hat ihrerseits mit einem Korruptionsskandal auf Madeira zu kämpfen. Dort fand die Polizei bei einer Grossrazzia Hinweise dafür, dass konservative Politiker für die Vergabe von öffentlichen Aufträgen Bestechungsgelder erhalten haben.
Ricardo Reis geht davon aus, dass der Wahlsieger, egal, ob rechts oder links, nur eine Minderheitsregierung wird bilden können. Doch lange werde sich seiner Meinung nach eine solche Regierung nicht halten können. «Spätestens bei der nächsten Budgetabstimmung droht eine Niederlage», so Reis. Staatspräsident Marcelo Rebelo de Sousa könnte dann das Parlament auflösen. Dann müssten die Portugiesen bereits am Jahresende erneut zu den Urnen gehen.