Kriwi Rih und Sumi: Innerhalb weniger Tage treffen russische Raketen das urbane Zentrum ostukrainischer Städte und töten viele Zivilisten. Über das zynische Kalkül solcher Angriffe schreibt Sergei Gerasimow.
Der letzte Schnee schmilzt auf den ukrainischen Feldern und gibt die Leichen der unter ihm begrabenen russischen Soldaten frei. Sie sind vom Regen gut von Blut und Schlamm gewaschen, mehrfach eingefroren und immer wieder aufgetaut. Einigen dieser Toten ist es gelungen, ein letztes Video aufzunehmen, während sie noch lebendig in den von ihnen gegrabenen Löchern kauerten. In einem davon sagt ein Soldat:
«X ist tot. Y, wir haben seine Leiche gefunden, auch tot. Wen haben wir noch? Z hat sich in die Luft gesprengt . . . Wenn dieses Telefon jemals gefunden werden sollte, dann wisse, liebe Aljonka, ich liebe dich!» (Stimme heiter und zärtlich, ohne Bitterkeit.)
Ein Menschenleben ist nichts wert. Das ist ein Axiom dieses Krieges.
Russische Lügen
Aber der menschliche Tod hat seinen Preis. Der Preis einer Iskander-M-Rakete etwa, mit der die Russen am Abend des 4. April Kriwi Rih getroffen haben, beträgt rund 3 Millionen Dollar. Die Rakete brachte 20 Menschen, unter ihnen 9 Kinder, um, so dass jeder Tote den russischen Staatshaushalt 150 000 Dollar kostete. Zwei weitere Iskander-M-Raketen töteten in Sumi 34 Menschen, so dass der Tod dieser Ukrainer Russland noch ein wenig teurer kam.
Wenn aber der Raketenangriff auf Sumi einer Art Logik folgte, einer schrecklichen, pervertierten militärischen Logik, dann erscheint der Angriff auf Kriwi Rih sinnlos. Niemand kann die folgenden Fragen wirklich beantworten: 1. Was ist geschehen?, und 2. Warum wurde es getan?
Über den Raketenangriff auf Kriwi Rih hat Russland mehrmals gelogen.
Die erste Lüge war, dass eine Präzisionsrakete auf das Restaurant Rose Marine zielte. Russische Quellen zeigten ein Video, in dem ein zerstörtes Restaurant zu sehen war, das von Menschen in Militäruniformen umgeben war. Man konnte erkennen, dass das Wohnhochhaus nahe dem Restaurant durch das Feuer geschwärzt, aber unbeschädigt war. Es handelte sich also wirklich um einen Präzisionsschlag.
In Tat und Wahrheit aber zeigt dieses Video ein anderes Restaurant in Kriwi Rih, «Swjatoschin», das bereits am 16. März 2025 attackiert wurde. Das verkohlte Wohnhaus daneben kann als Beweis dienen; es kann mit nichts anderem verwechselt werden. Beim Restaurant Rose Marine hingegen, das (nach Angaben der Russen) völlig zerstört wurde, wurden nur die Fenster durch eine Druckwelle beschädigt. Hätte der russische Vertreter bei der Uno, Wasili Nebensja, welcher vor der ganzen Welt das Märchen vom Präzisionsschlag zum Besten gab, Kriwi Rih besuchen können, wäre er überrascht gewesen, dass das Restaurant noch steht.
Die zweite Lüge bestand darin, dass sich Nato-Soldaten im «Rose Marine» versammelt hätten und die Rakete bis zu 85 von ihnen getötet habe. Es ist simpel: Wann immer eine russische Rakete tatsächlich ukrainisches Militär trifft, erhalten wir von unserer Seite fast identische Berichte, dass die Rakete ein Nichtwohngebäude getroffen und es keine Opfer gegeben habe. Das nennt man Militärzensur, und von dieser gibt es keine Ausnahmen. Es werden keine Videos, keine Fotos und keine Namen von Opfern veröffentlicht. In diesem Fall aber gibt es zahlreiche Videos und Fotos, die in den ersten Sekunden nach der Explosion aufgenommen wurden. Auf keinem waren Personen in Militäruniformen oder Leute zu sehen, die wie militärische Ausbilder aussahen.
Videos aus dem Inneren des Restaurants, die den Moment der Explosion festhielten, zeigen ein paar wenige Menschen sowie Blumen und Luftballons; es lief fröhliche Musik. Es ist erstaunlich, dass Russland seit über drei Jahren nicht in der Lage ist, ein Land zu bezwingen, wo sich ukrainische Militärangehörige mit westlichen Militärangehörigen tagsüber in Restaurants zu Partys treffen.
Die dritte Lüge war, dass der Tod der Zivilisten, unter ihnen auch Kinder, gemäss Nebensja auf ein «unprofessionelles Verhalten der ukrainischen Flugabwehr» zurückzuführen war. Tatsache ist, dass eine ballistische russische Rakete, die fast senkrecht einschlägt, nur in der oberen Hemisphäre abgeschossen werden kann, auf Gegenkurs, von unten nach oben. Wenn eine ukrainische Flugabwehrrakete die ballistische Rakete verfehlt, kann sie nicht mehr umkehren. Sie bewegt sich weiter nach oben; die Algorithmen bringen sie in den Zenit und dort zur Zerstörung. Es gibt daher gar keine Möglichkeit, dass eine solche Abwehrrakete über einem Spielplatz explodiert.
Ausserdem, wo wäre dann die russische Iskander geblieben?
Butscha 1 bis 10
Die vierte Lüge betraf den Sprengkopf der Rakete, aber das war nur eine teilweise Lüge. Die Ukraine berichtet, dass es sich bei der Rakete in Kriwi Rih um eine Iskander-M mit Streusprengkopf gehandelt habe. Das dürfte unzutreffend sein, denn bei einem solchen hätten wir nicht einen Krater, sondern mehrere Dutzend kleinere Krater von ungefähr gleicher Grösse.
Angesichts der Tatsache, dass die Menschen eine einzige Explosionswolke sahen, dass die Druckwelle stark genug war, um Fenster und Türen in einem 70 Meter entfernten Restaurant zu zerstören, und dass die Explosion in der Luft stattfand und den Rasen um den Spielplatz mit einer grossen Zahl kleiner Löcher übersäte, würde ich sagen, dass es sich um eine hochpräzise operativ-taktische ballistische Rakete handelte, höchstwahrscheinlich eine 9M723-1 mit einem in der Luft gezündeten Schrapnell-Sprengkopf. Nicht nur die Richtung, in der sich die Splitter verteilten, sondern auch der zu kleine Krater, den die 480 Kilogramm Sprengstoff hinterliessen, deutet darauf hin, dass die Rakete nicht erst am Boden detonierte.
Der letzte Punkt ist sehr wichtig, denn eine Rakete, die in der Luft explodiert, kann nicht auf ein einstöckiges Restaurant gerichtet gewesen sein, da sie sonst über dessen Dach explodiert wäre.
Es gibt noch mehr phantastische Versionen, die von russischen Desinformationsmedien verbreitet werden. So etwa traf eine ukrainische Rakete, die von Selenski und seinen «Handlangern» für solche Fälle vorbereitet worden war, den Spielplatz. Alles verlief nach einem bewährten Schema: Zuerst organisierte die Ukraine Butscha, dann Butscha 2, Butscha 3 bis Butscha 10.
Immerhin streitet das russische Verteidigungsministerium nicht ab, dass der Angriff von Russland ausging.
Was ergibt sich also?
1. An einem warmen Frühlingstag, als viele Menschen im Freien waren, schoss Russland eine hochpräzise ballistische Rakete ab – nicht auf das Restaurant Rose Marine, sondern auf eine freie Fläche in der Nähe des Spielplatzes. Solche Raketen verfehlen ihr Ziel nicht um 70 Meter. Ich habe mit eigenen Augen gesehen, wie mehrere von ihnen an der gleichen Stelle in Charkiw eingeschlagen sind, eine nach der anderen, wie die Schläge eines Presslufthammers.
2. Die Rakete hatte einen Schrapnell-Sprengkopf mit dem Zweck, so viele Menschen wie möglich zu töten.
3. Die Rakete wurde über dem Boden gezündet, damit die umherfliegenden Splitter so viele Menschen wie möglich erfassen.
Putins Lieblingstaktik
Egal, wie alt die Ukrainer sind, die getötet werden – es sind schon zu viele. Um Eindruck zu schinden, müssen sich die Russen jedes Mal etwas Neues einfallen lassen. Etwa, ein Kinderkrankenhaus anzugreifen oder etwas, das möglichst viele Kinder gleichzeitig tötet.
In einem der Videos schreit ein Kind: «Wofür? Mama!»
Aber Russland tötet ukrainische Kinder nicht wegen etwas. Es tötet sie mutwillig. Wobei es hier mehrere Varianten geben kann.
1. Vielleicht hat das russische Militär etwas verwechselt, kann jedem passieren. Vielleicht wollten die «Partisanen» aus Kriwi Rih etwas Geld verdienen und haben den Russen Falschinformationen verkauft. Russland führt häufig sinnlose Raketenangriffe durch. In Charkiw flog nicht eine, sondern es flogen sieben Iskander in das Gebäude des Sportpalastes. Der Sportpalast war leer, das steht fest.
2. Vielleicht bombardiert Russland die Ukraine so, wie Deutschland London bombardierte: Sie bombardieren alles, und eine gute Bombe ist sowieso nie vertan.
3. Vielleicht hatten die Generäle es ja auf Selenskis Heimatstadt abgesehen. Viele im Ort halten das für sehr wahrscheinlich.
Am selben Tag, kurz vor Mitternacht, wurde ein weiterer Schlag gegen die Stadt geführt. Dabei kam eine 56-jährige Frau ums Leben, sie verbrannte in einem Privathaus; 7 Menschen wurden verletzt.
4. Putins Lieblingstaktik besteht darin, etwas zu sagen und das genaue Gegenteil zu tun, und zwar dreist und in aller Offenheit. Wie Truppen auf die Krim zu schicken, die jeder als russisch erkennen kann, und zu behaupten: «Wir sind nicht dort.» Putin liess die Queen, den Papst, Barack Obama, Angela Merkel, die Staatsoberhäupter Japans und Israels sowie andere auf sich warten. Trumps Sondergesandter schmorte acht Stunden lang. Offensichtlich tut er das mit Absicht, aber er verliert nie sein höfliches Lächeln. Als Uno-Generalsekretär Guterres nach einem Treffen mit ihm nach Kiew reiste, schickte Putin ihm eine Rakete hinterher: «Schau, mein guter Freund, ich kann dich töten, wenn ich will.» Um zu verstehen, wie Putin tickt, muss man die KGB-Handbücher lesen; dort steht alles.
In unserem Fall sehen wir das Gleiche. Seit dem 19. Februar, als die «Friedensgespräche» begannen, hat sich die Zahl der russischen Angriffe auf die Ukraine stark erhöht. Und zwar gleich am ersten Tag der Verhandlungen. Das heisst, Putin war gleichzeitig für und gegen den Frieden. Während sein Unterhändler Dmitrijew in Washington Friedensinteresse mimt, schiesst Russland eine ballistische Rakete auf einen Kinderspielplatz ab.
Trump behauptet, er glaube Putin, aber das ist so, als würde man einer Klapperschlange vertrauen, die sich auf einen stürzt: Oh, sie hat so ein breites Lächeln – auf keinen Fall führt sie etwas im Schilde!
5. Putin schindet Zeit, so wie es Penelope tat. Die Frau des Odysseus webte tagsüber ein Leichentuch für ihres fernen Ehemannes betagten Vater Laertes und trennte es drei Jahre lang nachts wieder auf. Putin tut dasselbe mit der Idee des Friedens. Er kann den Krieg einfach nicht stoppen. Wenn der Krieg aufhört, werden eine Million bewaffnete Kriminelle, die gut im Töten sind, von der Front in die russischen Städte und Dörfer zurückkehren. Sie sind jene, die in Russland einen Aufstand gegen das Regime anzetteln können.
Das Paradoxe ist indes, dass der Krieg auch nicht beliebig lange fortgesetzt werden kann. Er frisst Russland von innen her auf.
Sergei Gerasimow lebt als Schriftsteller in der Grossstadt Charkiw, die nach wie vor von den Russen beschossen wird. – Aus dem Englischen von A. Bn.