Die einst von Nigel Farage gegründete Rechtspartei fordert Migrationsneutralität statt Klimaneutralität. Sie punktet in den Umfragen – und löst bei den Konservativen Alarmstimmung aus.
Eigentlich wäre der Wahlkreis Wellingborough in Mittelengland fest in konservativer Hand. Nur während der Ära von Premierminister Tony Blair schickte die Kleinstadt rund 120 Kilometer nördlich von London kurzzeitig einen Labour-Abgeordneten ins Unterhaus, seither wählt sie wieder stramm konservativ. Fast zwei Drittel der Wähler votierten bei dem Referendum 2016 für den Brexit, ähnlich hoch fiel bei der Parlamentswahl 2019 der Wahlsieg der Tories von Boris Johnson aus.
Nun aber müssen die Konservativen bei einer im Februar anstehenden Ersatzwahl ins Unterhaus um einen sicher geglaubten Sitz bangen. In den Umfragen liefern sie sich mit der Labour-Partei ein Kopf-an-Kopf-Rennen. Für die Konservativen verheisst das mit Blick auf die wohl im Verlauf des Jahres anstehende Gesamterneuerungswahl des Unterhauses wenig Gutes.
Spalten sich die rechten Stimmen?
Die Ausgangslage zeugt weniger von Begeisterung für die Labour-Partei von Keir Starmer als vom Überdruss mit den Tories von Premierminister Rishi Sunak. Nach vierzehn Jahren an der Macht wirkt die Partei verbraucht. Erschwerend kommt hinzu, dass den Konservativen auch von rechts Widerstand erwächst: Die rechtsnationale Gruppierung Reform UK kommt gemäss den Umfragen in Wellingborough auf 12 Prozent der Stimmen, womit sie weit vor den Liberaldemokraten und den Grünen zur drittstärksten Partei avancieren könnte.
Auf nationaler Ebene erfreut sich Reform UK ähnlicher Beliebtheit. Damit hat die Rechtspartei ihre Umfragewerte innert einem Jahr verdoppelt. Dies nährt die Befürchtungen konservativer Parteistrategen, Reform UK werde die rechten Stimmen aufspalten.
Damit hätte Labour bei den gemäss dem Majorzsystem abgehaltenen Unterhauswahlen plötzlich selbst in klar konservativen Wahlkreisen wie Wellingborough Chancen auf einen Sitz. Eine vom «Daily Telegraph» publizierte Umfrage prophezeite den Tories jüngst ähnlich massive Sitzverluste wie 1997 bei dem Erdrutschsieg der damals von Tony Blair angeführten Labour-Partei.
Reform UK ist kein neuer Akteur: Die Gruppierung wurde 2018 vom Brexit-Vorkämpfer Nigel Farage unter dem Namen Brexit Party gegründet. Die Partei setzte sich zum Ziel, den weichen Brexit-Kurs von Premierministerin Theresa May zu stoppen – und sie brachte damals eine grosse Zahl von Tory-Abgeordneten auf Linie.
Nach dem Wahlsieg von Boris Johnson und dem Vollzug des harten Brexits zog sich Farage aus der Politik zurück. Seine Brexit Party benannte sich während der Pandemie in Reform UK um und opponierte gegen Johnsons drakonische Corona-Massnahmen.
Migrations- statt Klimaneutralität
Nun setzt Reform UK die Konservativen erneut unter Druck: Die vom Unternehmer Richard Tice präsidierte Partei fordert tiefere Steuern und das Ende der Wartelisten im Gesundheitswesen. Damit erinnert sie die Wähler direkt an die Versäumnisse der Tory-Partei.
Am meisten Beachtung findet Reform UK aber mit ihren umwelt- und migrationspolitischen Positionen: So verlangt die Partei ein Ende der Klimaneutralität und stattdessen eine neue Migrationsneutralität. Diese sähe vor, dass jedes Jahr nur noch so viele Zuwanderer nach Grossbritannien kommen dürfen, wie Auswanderer das Land verlassen.
Wie dies im Detail umzusetzen wäre, verrät die Protestpartei nicht. Wichtiger ist das politische Signal. Denn trotz den gegenteiligen Brexit-Versprechungen hat die Zuwanderung seit dem Vollzug des EU-Austritts von 2021 historische Höchstwerte erreicht. An die Stelle von Polen und Spaniern sind Inder und Nigerianer getreten, welche die Lücken im Pflege- und Gesundheitswesen und in anderen Sektoren stopfen.
Die neue Konkurrenz durch Reform UK ist mit ein Grund dafür, dass sich Rishi Sunak in den letzten Monaten nach rechts orientiert hat. So schwächte der Premierminister die grüne Klimapolitik seines Vorgängers Boris Johnson ab und weichte etwa die geplanten Verbote von Benzinautos und Gasheizungen auf.
Auch bei der Vergabe von Visa für ausländische Arbeitskräfte tritt die Regierung nun auf die Bremse. Um irregulär über den Ärmelkanal gelangte Migranten nach Rwanda ausschaffen zu können, hat Sunak überdies die bisher schärfste Asylgesetzrevision der britischen Geschichte durchs Unterhaus gebracht.
Dem rechten Parteiflügel der Tories geht dies freilich nicht weit genug. Seine Exponenten hatten im Asylrecht Verschärfungen gefordert, die einen expliziten Bruch des Völkerrechts bedeutet hätten. Bereits gibt es einzelne Stimmen, die mit Blick auf die katastrophalen Meinungsumfragen der Tories dazu aufrufen, Sunak durch einen neuen, weiter rechts stehenden Premierminister zu ersetzen.
Kehrt Nigel Farage zurück?
Ob die Bevölkerung den bereits vierten Wechsel an der konservativen Partei- und Regierungsspitze seit 2019 goutieren würde, ist allerdings fraglich. Doch sollte Reform UK bei der Nachwahl von Wellingborough triumphieren und die Konservativen ein Fiasko erleben, könnte die Verzweiflung der Abgeordneten zunehmen – und die Rebellion gegen Sunak an Fahrt gewinnen.
Der Reformpräsident Tice nützt die Krise der Tories gnadenlos aus. Er wirft der Partei vor, sie habe den Kompass verloren und verdiene es, nach vierzehn Jahren von den Schalthebeln der Macht verjagt zu werden. In Westminster kursieren wilde Spekulationen, nach denen der rechtsnationale Tory-Flügel und Reform UK nach den Wahlen eine neue Partei aus der Asche heben oder die Macht innerhalb der Tories übernehmen könnten.
Offen ist, ob Nigel Farage in die politische Arena zurückkehrt. Der Gründer von Reform UK gehört zu den schillerndsten Persönlichkeiten der britischen Politik – und könnte den Wähleranteil der Protestpartei zusätzlich steigern. Im Dezember nahm er an einer Reality-TV-Show im australischen Dschungel teil, womit er seine Bekanntheit ausserhalb seiner traditionellen Wählerbasis steigern konnte.
Fest steht, dass Reform UK die Ausgangslage für Sunak erschwert. Boris Johnson kamen bei seinem Wahltriumph von 2019 zwei externe Faktoren zugute: Einerseits war der altlinke Labour-Chef Jeremy Corbyn für viele Wähler ein rotes Tuch. Andererseits stellte die damalige Brexit Party in klar konservativen Wahlkreisen keine eigenen Kandidaten auf – aus Angst, ein Labour-Sieg könnte die Umsetzung des Brexits gefährden.
Knapp fünf Jahre später muss sich Sunak nicht nur mit einem moderateren Labour-Chef herumschlagen. Er wird vielmehr auch von einer Rechtspartei bedrängt, die auf die Tories keine Rücksichten mehr nehmen will.