Erstmals seit 1962 entzieht das französische Parlament dem Ministerpräsidenten das Vertrauen. Auch Präsident Emmanuel Macron gerät unter Druck. Droht dem Land ein Shutdown «à l’américaine»? Fragen und Antworten zur politischen Krise in Frankreich.
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- Nach weniger als drei Monaten im Amt ist die französische Minderheitsregierung Geschichte. Michel Barnier, der konservative Premierminister, hat am Mittwochabend (4. 12.) das Misstrauensvotum nicht überstanden. Vorausgegangen war ein Streit um einen Sparhaushalt, den die Mehrheit der Parlamentsabgeordneten heftig ablehnte. Entsprechend klar fiel das Verdikt aus. 331 Abgeordnete entzogen Barnier das Vertrauen. Für die absolute Mehrheit hätten 288 Stimmen gereicht. Das deutliche Resultat ist auf einen seltenen Schulterschluss des Linksbündnisses mit den Rechtsnationalen von Marine Le Pen zurückzuführen. Beide Lager hatten je ein Misstrauensvotum eingereicht. Bereits die erste Abstimmung sorgte für das Aus der Regierung. Zur Analyse
- Nach dem Regierungssturz hat Frankreichs Linke am Mittwoch (4. 12.) den Rücktritt von Präsident Emmanuel Macron gefordert. «Um aus der Sackgasse zu kommen, in die der Präsident das Land geführt hat, bleibt uns nur eine Lösung: Wir fordern Emmanuel Macron jetzt auf, zu gehen», sagte die Fraktionsvorsitzende der Linkspartei La France Insoumise (LFI), Mathilde Panot. Die Fraktionschefin von Frankreichs Rechtsnationalen, Marine Le Pen, machte Macron für die politische Krise verantwortlich, die mit dem Regierungssturz eingetreten ist. «Er ist der grosse Verantwortliche der aktuellen Situation», sagte Le Pen auf TF1. «Ich fordere nicht den Rücktritt von Emmanuel Macron», sagte sie. Der Druck auf ihn werde aber steigen, er müsse selbst entscheiden, ob er bis 2027 im Amt bleiben wolle oder verfrühte Wahlen ausrufe.
Grund für die Unzufriedenheit mit Michel Barnier und seinem Kabinett war der vorgesehene Sparhaushalt. Die Mehrheit der Abgeordneten lehnten diesen vehement ab. Sowohl im linken wie im rechten Lager baute sich grosser Widerstand auf. Von beiden Seiten wurde je ein Misstrauensvotum eingereicht. Schon die erste Abstimmung führte mit einem deutlichen Resultat von 331 Stimmen bei einer absoluten Mehrheit von 288 zum Sturz der Regierung.
Nach dem verlorenen Misstrauensvotum muss Barnier sofort seinen Rücktritt beim Präsidenten Emmanuel Macron einreichen. Technisch steht Frankreich ohne einen Regierungschef da. Aber Macron kann Barniers Kabinett bis zur Bildung einer neuen Regierung geschäftsführend im Amt lassen. Die Minister dürfen zwar keine neuen Initiativen anstossen, kümmern sich aber um laufende Angelegenheiten.
Macron muss mit der Suche nach einem Nachfolger für Barnier beginnen – was er wahrscheinlich längst getan hat. Erfahrungen mit geschäftsführenden Regierungen hat das Land. Das letzte Mal gab es eine solche nach dem Rücktritt von Gabriel Attal im Juli. Aber angesichts der hohen Staatsschulden und der schwierigen Wirtschaftslage braucht Frankreich dringend eine handlungsfähige Regierung.
Nein. In Frankreich, wo der Präsident ein Monarch auf Zeit ist, kann das Parlament nur die Regierung stürzen. Das Narrativ, dass mit dem Ende Barniers auch ein Ende der Ära Macron naht, wird derzeit von vielen Oppositionspolitikern erzählt.
Vor allem der linke Volkstribun Jean-Luc Mélenchon, der selbst Präsident werden will, fordert Macron seit Wochen zum Rücktritt auf. Mathilde Panot, die Fraktionsvorsitzende der Linkspartei La France Insoumise (LFI) tat es ihm nach dem Sturz der Regierung gleich. «Um aus der Sackgasse zu kommen, in die der Präsident das Land geführt hat, bleibt uns nur eine Lösung: Wir fordern Emmanuel Macron jetzt auf, zu gehen», sagte sie.
Richtig ist: Der Staatschef ist unter Druck, seine Zustimmungswerte sind im Keller, aber Anzeichen dafür, dass er sich von Mélenchon und Le Pen zu einer vorgezogenen Präsidentschaftswahl bewegen lassen könnte, gibt es nicht.
Nein. Nach der vorgezogenen Wahl im Sommer ist eine erneute Parlamentswahl in Frankreich erst im Juli 2025 möglich. Ob die künftige Regierung nur als Überbrückung bis zu neuen Wahlen antritt, ist vollkommen offen.
Mit dem Sturz der Regierung dürften die meisten ihrer Gesetzesentwürfe begraben werden. Betroffen davon sind auch die drei Haushaltsgesetze, die der Premierminister Barnier eigentlich bis Jahresende durch das Parlament bringen wollte. Ein neuer, von einer möglichen künftigen Regierung vorbereiteter Haushaltsentwurf hätte keine Chance, die Frist bis zum 31. Dezember einzuhalten.
Nein. Ein Stillstand der Regierungsgeschäfte wie in den USA ist in Frankreich noch nie eingetreten und auch nicht zu erwarten. Eine Möglichkeit ist, dass die Abgeordneten ein Sondergesetz auf den Weg bringen, das es dem Land ermöglicht, auf der Basis des Haushalts von 2024 weiterzumachen.
Gäbe es für ein solches Gesetz keine Mehrheit, könnte der Präsident immer noch Notmassnahmen nach Artikel 16 der Verfassung ergreifen. Dann wäre der demokratische Normalbetrieb vorübergehend ausser Kraft gesetzt. Aber Le Pen und der NFP haben bereits angekündigt, für das Sondergesetz zu stimmen.
Weder die linken noch die rechten Parteien können auf eine regierungsfähige Mehrheit zählen. Auch mögliche Koalitionen sind bisher stets gescheitert. Eine neue Regierung wird das kaum ändern können. Macron hatte den als ehemaligen Brexit-Unterhändler der EU verhandlungserprobten Barnier als Premier in der Hoffnung ins Rennen geschickt, dass er einen Dialog zwischen den Lagern in Gang bringt. Ob ein künftiger Premier mehr Geschick beweist, ist offen.
Macron hatte im Frühsommer zu einer vorgezogenen Parlamentswahl aufgerufen. Das führte das Land in eine politische Krise, die sich nun verschärft. Neue Gesetze und Reformen lassen auf sich warten. Der Sparhaushalt für 2025 ist noch nicht beschlossen. Notfalls greift zunächst weiter der Haushalt des laufenden Jahres – mit drohenden Steuererhöhungen für zahlreiche Bürgerinnen und Bürger und dem Ausbleiben geplanter Entlastungen.
Finanzmärkte könnten angesichts der andauernden Krise und der ungelösten Haushaltsfrage Vertrauen in Frankreich verlieren, auch die Kreditwürdigkeit des Landes könnte sich verschlechtern – was zu weiteren finanziellen Belastungen führen würde. Schon in den vergangenen Monaten haben heimische und ausländische Unternehmen mit Investitionen gezögert. Sollte die Hängepartie andauern, droht dem Standort Frankreich ein noch grösserer Schaden.
In der Aussenpolitik gibt in Frankreich der Präsident den Ton an. Ein Andauern der politischen Krise daheim würde aber auch Macrons Auftritt auf internationaler Bühne oder in Brüssel beeinträchtigen. Wenn es neben Deutschland angesichts einer vorgezogenen Bundestagswahl parallel auch in Frankreich politischen Stillstand gibt, ist das schlecht für die EU.
Aussenminister Sébastien Lecornu warnte bereits, dass Frankreichs Hilfe für die Ukraine bei einem Regierungssturz und dem Ausbleiben einer Haushaltseinigung leiden könnte. Frankreich liefere der Ukraine viel ausgesondertes Militärmaterial. Wenn Frankreich aber Haushaltsmittel zur Anschaffung neuer Waffen für die eigene Armee fehlten, könne es auch keine ausgedienten Flugzeuge oder Fahrzeuge an Kiew abgeben.
Regierungen in Frankreich sind vielleicht weniger langlebig als in Deutschland. Unter der Präsidentschaft von Macron hat es seit 2017 bereits sechs Regierungen mit fünf verschiedenen Premierministern gegeben. Druck aus dem Parlament hat bei diesen Regierungswechseln zwar eine Rolle gespielt, aber die Abgeordneten haben das Kabinett nicht abgewählt.
In der jüngeren französischen Geschichte waren Abgeordnete bisher erst einmal mit einem Misstrauensvotum erfolgreich: 1962 entzogen sie Premierminister Georges Pompidou und seiner Regierung unter Präsident Charles de Gaulle das Vertrauen. Danach kam es zur Neuwahl, und Pompidou wurde von de Gaulle wieder eingesetzt.
Mit Agenturmaterial.







